Die Idylle in dem Abbruchhaus bekam nach ein paar Wochen kleine schwarze Flecken. Nämlich auf unseren Köpfen. Läuse. Wir kratzten uns die Kopfhaut blutig, wuschen uns ständig mit Regenwasser die Haare, aber wir wurden die winzigen Tierchen nicht los. Da Zeus als Arzneimittelfahrer immer Medikamente in seinem Wagen hatte, suchten wir den R4 von oben bis unten ab und wurden tatsächlich fündig. Ein Läusemittel! Wie Wasser schütteten wir die stinkende Flüssigkeit auf unsere Köpfe und dachten daran, dass so eine feste Wohnung doch keine schlechte Idee sei. Das fand auch Clochard, der inzwischen eine winzige 1-Zimmer-Wohnung gefunden hatte und uns anbot, dort zu übernachten. Was er nicht erwähnt hatte war, dass er fast jeden Abend noch eine oder mehrere Frauen mitbrachte. Wieder lagen wir im Fünfer-Päckchen auf dem Boden wie die Ölsardinen.
Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen und eines Morgens stand Zeus mit seiner Gitarre und seinem zerschlissenen Lederrucksack an der Tür und sagte: „Eigentlich wollte ich ja keine Beziehung, aber nun sind wir doch schon seit sechs Monaten zusammen. Ich muss für ein paar Monate ans Meer, ich brauche meine Freiheit wieder. Keine Tränen bitte, mein Hase, ich hab dich lieb. Machs gut!“ Die Tür schloss sich hinter ihm.
Mit offenem Mund und starrem Blick sah ich ihm nach. Er hatte mir keine Möglichkeit gegeben ihn abzuhalten. Er hatte seine Entscheidung einfach getroffen und umgesetzt. Nach einem Moment zwang ich mich, tief Luft zu holen. Es war also doch eingetreten. Ich habe seinen Freiheitsdrang nicht bändigen können. „Ich reiche nicht“, sage ich leise vor mich hin und zwang mich nicht zu weinen. „Sei jetzt tough, Angela“, sagte ich mir und stand auf, um meine Sachen zu packen. Allein wollte ich bei Clochard nicht bleiben. Ich zog wieder in die Dachwohnung im Hause meiner Tante und ging weiter ins Hotel. Bald stand die Abschlussprüfung an. Nach der Arbeit lernte ich und am Wochenende fuhr ich nach Utzmemmingen zu meiner Familie. Ich fühlte mich allein und brauchte vertraute Menschen um mich herum.
Mit den Kindern meiner Schwester war ich abgelenkt und dann die vielen Mahlzeiten, die zuhause ja immer eingenommen wurden. Für ein paar Stunden fühlte ich mich ganz leicht und innerlich stark. Doch dann kam die Nacht und damit ein immer wiederkehrender Albtraum. Ein schwarzer Schatten, der sich über mich legt und mich verfolgt, wohin ich auch laufe. Dieser schwarze Schatten legt sich auf meine Seele und löst in mir ein tiefes Gefühl der Traurigkeit, Verzweiflung und Angst aus. Ich wachte mit wild klopfendem Herzen und klebrigen Haaren an der Stirn auf, riss die Decke weg und schlich mich nach unten. Ich öffnete die Haustür und lief auf die Straße. Ich hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Alles war so eng - in mir und um mich herum. Barfuß, nur im Nachthemd, stand ich im Mondschein auf der Straße vor meinem Elternhaus und atmete schwer ein und aus. Dabei blickte ich hilfesuchend Richtung Mond. Was war los mit mir, was passierte hier? Ich ging wieder rein, legte mich ins Bett und beschloss, jetzt etwas Schönes zu träumen. Aber Moment mal, warum immer träumen? Warum musste ich mir das Schöne im Leben immer erträumen? Warum nicht erleben? Wovor genau hatte ich denn solche Angst? Kurz bevor ich wieder einschlief, begriff ich. Ich hatte Lebensangst. Angst vor dem Leben.
Zurück in München bestand ich meine Abschlussprüfung zur Hotelfachfrau und bekam über meine Freundin Mausi ein Zimmer zur Untermiete. Ich zog ein und ging direkt zum Arbeitsamt. „Guten Tag, ich möchte gern Schauspielerin werden“, sagte ich selbstbewusst und schob meinen Lebenslauf durch den Schlitz der Trennscheibe. Die Dame mit dem strengen Zopf hinter der Glasscheibe sah mich durch ihre dicke Brille an wie durch ein Aquarium. Dann fing sie an zu lächeln und zog einen dicken Ordner aus einem Regal neben ihr. „Schau’n Sie mal. Das sind alles arbeitslose Schauspieler und die haben den Job sogar gelernt. Sie sind doch Hotelfachfrau, da hätte ich hier einen Job für Sie“, sagte sie und schob mir eine Stellenausschreibung entgegen. Im Büro des „Holiday Inn“ suchten sie eine Mitarbeiterin. „Hm! Nicht das, was ich eigentlich wollte, aber was soll’s“, sagte ich und bewarb mich auf den Job. Kurz darauf fing ich an. Für 380 Euro Mark netto im Monat.
Als ich eines Abends nach der Arbeit nach Hause kam, hatte ich Lust, unseren alten Freund Schrat zu sehen. Ein bisschen Wein trinken und über eine bessere Welt philosophieren. Ich klopfte an seiner Tür. Es raschelte in dem engen Raum, ein Stuhl wurde zur Seite geschoben, dann sagte Schrat: „Jetzt kommt bestimmt der Hase“. Ich horchte auf. Was hatte er gesagt? Der Hase? Das erinnerte mich an Zeus, er hatte mich immer so genannt. Aber woher wusste er, dass ich vor der Tür stand? Die Tür öffnete sich und im Türrahmen stand nicht Schrat, sondern Zeus! Braungebrannt, mit weißem Strahlelächeln, eine Hand an der Tür, mit der anderen stützte er sich lässig im Türrahmen ab. „Hase, wie geht es dir, komm doch rein“, sagte er. Aber ich war schon in seine Arme gestürzt. Ich umklammerte seinen Hals wie eine Rettungsboje, er hob mich hoch und ich drückte mich weinend an ihn. Ich hatte ihn wieder, meine große Liebe. Und er roch so gut. Nach Salz und Abenteuer. Wir waren wieder zusammen. So wie am ersten Tag. Zeus hatte den Sommer in Cannes verbracht und dort für die reichen Cotê-d’Azur-Touristen gesungen und dazu auf seiner Gitarre gespielt. Jetzt, da er wieder da war, fühlte ich mich wieder vollständig. Ganz.
Bei Schrat konnten wir nicht bleiben, er hatte schweren Liebeskummer, trank zu viel und rief dann nachts wirres Zeug, während er durch seine Wohnung stolperte. Wir kamen wieder bei Freunden unter, konnten jedoch nirgendwo länger bleiben. Also zogen wir von Lager zu Lager und landeten nach einer Weile in einem leer stehenden Keller. Wir ernährten uns von Zwiebelreis, steifgeschlagenem Eiweiß mit Zucker und Haferflocken. Im Winter wurde es zu kalt in dem Keller. Morgens, wenn ich aufwachte, konnte ich meinen Atem sehen, die Finger waren kalt und steif, wenn ich mich aus unserem Deckenlager schälte, um zur Arbeit zu gehen. Zum Glück gab es auch dort eine Dusche. Und so verwandelte ich mich jeden Morgen von der freigeistigen Obdachlosen in eine strenge Bürokraft. Ich lernte, wie ein Betrieb funktioniert, und vor allem, wie er Geld spart. Ständig wurden Gastarbeiter nach München geholt und zu sechst in winzigen Zimmern untergebracht. Und dafür mussten sie auch noch was bezahlen. Sie arbeiteten von früh bis spät und kosteten das Hotel weniger als die einheimischen Mitarbeiter. Nach der Arbeit zog ich wieder meine zerschlissene Jeans an und merkte, dass mich meine Arbeit immer mehr anwiderte. Ich lebte wie in zwei Welten. Auf der einen die, deren Vorstellung von einer freien, konsumfreien Welt geprägt war, und auf der anderen die, in der es nur um die Vermehrung von Materiellem und Macht ging.
Natürlich brauchten wir das Geld, aber ich wollte mich nicht mehr täglich unwohl, feige und falsch fühlen. Ich kündigte und das Hotel bot mir das doppelte Gehalt. Ohne zu zögern sagte ich wieder ab. Hier ging es um mich, nicht bloß um Geld. Ich hatte gehört, dass es die Möglichkeit gab, das Fachabitur nachzumachen. Das wollte ich machen und dann Sozialpädagogik studieren. Im Herbst sollte die Schule losgehen. Zeus wollte Musiker werden und hatte sich ein Tonband gekauft, komponierte Songs und übte jeden Tag seine Songs. Wir saßen im Englischen Garten und ich sammelte mit meinem weißen Hut Münzen von Passanten, die kurz stehenblieben. Ich war wie im Himmel. Frei und mit ihm. Zeus und ich waren wie eine Familie. Eine Einheit. Nichts konnte uns trennen. Dachte ich.
Dann kam der Sommer und Zeus stand mit seiner Gitarre über der Schulter und dem Lederrucksack auf dem Rücken vor mir und sagte: „Mein lieber Hase, nun sind wir schon zwei Jahre zusammen. Ich muss ein paar Monate ans Meer. Ich brauche meine Freiheit. Keine Tränen bitte. Ich hab dich lieb. Mach’s gut“, sagte er und ging mit entschlossenen Schritten die Straße hinunter. „Er tut es wirklich schon wieder“, murmelte ich leise und hob cool meine Hand zum Abschied. „Dann viel Spaß und verbrenn dir nicht die Nase!“ Bloß nicht vor ihm heulen. Lieber später wieder allein.
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