»Schiff in Position. Genau drüber.« Unheimlich leise klang die Stimme des Roboters gegen das Rauschen von draußen. »Drei, zwei, eins – Sprung!«
Ich sprang, die Arme weit voraus gestreckt, nicht so elegant wie die Bungeenauten in den Mariner-Tälern, die es wagen, sich gleich sechs Kilometer in die Tiefe zu stürzen. Außerdem meditierte ich nicht dabei. Im Gegenteil. Da bemerkte ich es. Etwas fehlte! Der Fall riss mir die vor Überraschung geflüsterten Worte aus dem Mund. Dann hörte ich meinen alten Freund gegen den Lärm rufen.
»Gruppe: Sisters Of Mercy. Song: Temple Of Love!«
Schneller Vandalenkrawall, eine dunkle, magisch anziehende Stimme, beschwörend – der düsteren Vorhersage eines Schamanen auf dem Mars würdig - der forsche Takt eines Schlagzeugs. Kurz vor dem Zupacken: Lauter, die Schlägel hetzten den Sänger vor sich her. Sofort sah ich klarer!
Die Kugeln pfiffen um mich herum. Genauer abgefeuert, als mir lieb war. Rechts, links, hinter meinem Rücken, vor der Brust. Ein stummes, auf den Lippen zerbissenes Gebet, niemand möge es in die Mitte des gedachten Vierecks schaffen. Ein paar Reiter zogen armlange Säbel aus den Schwertscheiden auf ihren Rücken. Sie mussten annehmen, ich wolle nach diesem Sturzflug als dunkelvioletter Dämon über sie kommen. Falsch gedacht! Um Haaresbreite jagte ich an dem Anführer vorbei, die Finger meiner Hände abgespreizt, das Singen des Motors übertönte den Schamanen in meinen Ohren, stoppte mich wenige Zentimeter vor dem Sandhügel, ausreichend nah, damit ich zupacken konnte. Ich verkrallte mich in schmalen Schultern, riss an der mageren Gestalt, eingezwängt in ein ledriges Netz, das zu meinem Erschrecken für einen Sekundenbruchteil nachgab und ich schon befürchtete, das Fliegengewicht in meinen Händen ginge mir verloren. Summend katapultierte uns der Elektromotor rasant in die Höhe, beinahe so furchtbar schnell, wie eben noch der Fall. Die Leine zog mit einem solchen Ruck an mir, dass ich augenblicklich glaubte, meine Rippen würden brechen.
»Habe euch!«
Kein zweites Mal in meinem Leben habe ich Jiminys elektronisches Organ derart gern auf den Ohren gehabt wie in diesem Moment!
Völlig unerwartet hatten wir in der Nähe der Drachenzähne eine uralte Plattform gefunden. Vom Zahn der Zeit abgeschliffene Mauerabgrenzungen deuteten auf einen ehemaligen Siedlungsgrund hin. Zwar von unzähligen Rissen weitestgehend unbrauchbar gemacht, leicht schräg am langen Ende im Sand versunken, war es Jiminy gelungen, eine halbwegs stabile Ecke für unseren Leichten Frachter zu finden. Andere Segmente der betonierten Ebene wurde als eine Art Markt genutzt, sehr gering besucht allerdings. Die SCHILDKRÖTE III machte enormen Eindruck auf die Einheimischen. Sie gafften, zeigten auf die Front des Schiffes und wedelten sich die Rauchschwaden der Landungsdüsen aus dem Gesicht. Die abgerissenen Gestalten, derangierter noch als die Leute aus der Karawane, konnten mit den Teilen des Leichten Frachters bestimmt einiges anfangen. Damit erst gar nicht irgendwelche Begehrlichkeiten aufkamen, schwenkte ich das Buggeschütz zwei-, dreimal im Kreis, ebenso die Torpedowerfer an der Ober- und Unterseite des Schiffes. Diese waren völlig unnütz in der Atmosphäre. Die Hinterwäldler konnten es nicht wissen. Das düsterblaue Glosen in den Abschussrohren verhieß ihnen nichts Gutes. Das genügte. Mehrere stolperten zurück. Einer setzte sich gar ehrfürchtig auf seinen Hintern und starrte mit offenem Mund zur Pilotenkanzel empor.
Der Anflug war meine Aufgabe gewesen. Jiminy hatte sich derweil um unseren Gast gekümmert. Der hatte sich als zänkisch und undankbar herausgestellt.
Kleines Mädchen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Wenn Jiminys Schätzung stimmte, denn sie hatte ihn nicht für eine Blutprobe an sich herangelassen und sich mit Händen und Füßen gegen das gewehrt, von dem ich ihr – in meiner Sprache, noch ein Fehler – erklärt hatte, es handele sich um einen intelligenten Roboter mit einer in über eintausend Jahren entwickelten Persönlichkeit. Ohne Frage hatte sie kein Wort verstanden. Sie war zweifelsohne schockiert von der mechanischen Konstruktion, die einem irdischen Clown-Fangschreckenkrebs nachempfunden war. Wäre er nicht schon seit mehreren hundert Jahren ausgestorben, wäre ihr in dieser Wüste ohnehin nie ein echter über den Weg gelaufen.
Irgendwie, sehr geduldig, war es Jiminy gelungen, ihr wenigstens die Kapuze vom Kopf zu streifen. Haare und Haut besaßen die Farbe von Sand, so enthüllt sicherlich eine perfekte Tarnfarbe. Das Gesicht war annähernd oval, dicht beeinander stehende Augen betüpfelten eine kräftige breite Nase. Schmal, dünnlippig überflog der winzige Mund eine spitze Kinnpartie.
Und laut war sie! In all den Jahren unseres Zusammenseins hatte ich gelernt, die Körpersprache des Roboters zu lesen – fast eine kleine Wissenschaft, von der er behauptet hatte, sie sei unmöglich von mir zu erlernen. Aber ich hätte geschworen, mein Vandalenkrawall wäre ihm jederzeit lieber gewesen, als das Kind in einer Ecke unserer Ladebucht, dem es gelang, mit seinem Gekreisch noch den hintersten Winkel unseres Leichten Frachters zu erreichen. Trotz der Schutzmaske, die Jiminy dem Mädchen überfallartig – wegen ihrer propellerhaft kreisenden Arme – übergestreift hatte. Klemmverschlüsse hielten das Filterutensil an ihrem Hinterkopf fest.
Der Plan war einfach. Die Kleine sollte bei freien Menschen untergebracht werden, schlicht in Sicherheit.
Jiminy hatte wirklich versucht, sich mit dem Mädchen zu verständigen. Zu seiner Verwunderung war es ihm nicht geglückt. Ein Wirrwarr von Worten, vielleicht auch Unsinn, war auf den Roboter eingeprasselt und, wie er mir versichert hatte, hatte er sich die größte Mühe gegeben, die eingehenden Daten zu verarbeiten und so etwas wie eine Syntax daraus abzuleiten, von Wortbedeutungen ganz zu schweigen. Die unverschlüsselte Kommunikation aus den Drachenzähnen, seit Jahren von Überwachungsstationen auf Luna mitgeschnitten und in ihre Bestandteile zerlegt, half ihm kein Quäntchen weiter.
Bei mir arbeiteten die Übersetzungsprogramme zu meiner vollen Zufriedenheit. Kurz nach dem Aufsetzen, da eine Beruhigung der Gemüter rings um uns eingekehrt war, marschierte eine Abordnung von drei Frauen und zwei Männern vor der SCHILDKRÖTE III auf. Offenbar verwirrt, wohin sie sprechen sollten, rief die zuvorderst stehende Frau ein leuchtendes Positionslicht neben unserer Abfallentsorgungsluke an.
Mode war uns im Sonnensystem nicht fremd. In erster Linie war sie funktional und mitunter sogar farbenfroh, erst recht bei uns auf dem Mars, die wir von Gottheiten und Feiertagen nicht genug bekommen konnten und jede Gelegenheit nutzten, uns auszustaffieren.
Hier auf der Erde, zugegeben, es war erst das zweite Beispiel nach den Leuten von der Karawane, gab man sich eher trist. Die Abordnung der Drachenzähne trug grüne, meist dunkelgrüne Stoffe. Anders als bei dem Anführer der Karawanenreiter gab es bei diesen Abgesandten kein Zeichen eines Vorsprechers, ersten Bürgers oder was auch immer.
Wir hatten nach Metallen an ihren Körpern gescannt, auf der Suche nach versteckten Waffen und nichts gefunden. Was nicht hieß, dass sie zugeschnitzte Knochen oder Hiebwerkzeuge aus Kunststoffen bei sich trugen. Doch um das zu entdecken, besaßen wir nicht die Mittel. Plastik und Skelette erwartete niemand auf Asteroiden zu finden. Aus diesem Grund hatte keiner ein technisches Gerät dafür gebaut. Es hätte keinen Verdienst eingebracht. Ganz im Gegensatz zu den beiden baugleichen Apparaturen, die ich mit mir nach draußen nahm.
Ich öffnete die Ausstiegsrampe und übergab das Schiff in die Obhut von Jiminy.
Der Roboter klinkte sich von der Ladebucht aus in die Systeme der SCHILDKRÖTE III ein und behielt von dort die Übersicht über den Frachter – und das Mädchen, dem er es zutraute, in seiner Abwesenheit sein schönes Frachtdeck zu ruinieren.
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