»Schießt du jetzt?«
Ich betätigte den Abzug. Eine Millisekunde später jagte die von den Magnetfeldern aufgeheizte Eisen-Cobalt-Kugel, zehn Zentimeter im Durchmesser, in die Tiefe und schmolz beim Aufprall ein vor glühender Hitze dampfendes Loch in die Düne.
Verschiedene Aufträge hatten uns auf die Erde geführt. Über ein Jahr waren wir von Station zu Station, von Konvoi zu Konvoi, von Mond zu Mond – sogar nach Luna – geflogen und schließlich in die Erdatmosphäre eingedrungen. Endlich! Berauscht von all den Eindrücken aus Jiminys Erzählungen, den schönen Dingen, der Kunst, wie er es nannte, der Popkultur, der Musik waren wir sehr langsam zum ehemals Blauen Planeten herabgestiegen. Von der azurfarbenen, von Jiminy gepriesenen Pracht war nicht viel übrig geblieben. Die vorherrschende Palette setzte sich aus Grüntönen, Ocker und fadem Braun zusammen. Anders die Wasseradern und -reservoire der Erde; ihre geschrumpften Ozeane und vereinzelten Seen strahlten in Schlieren aus Kupfer und Silber durchsetzt mit Grünspan.
Und nun unter uns: Wüste. Das Dünenmeer wanderte gen Norden. Aus dem in kaum fünfzehn Kilometern unser Ziel, die Drachenzähne, aufragte, pechschwarz, spitz, vom steten Scheuern des Sandes angenagt, löchrig, schartig wie ewig gebrauchte Dolche, für das bloße Auge leicht erkennbar.
Jiminy schaltete das Angriffstrommeln ab. Disturbed verklang mitten im Kampfschrei. Schlagartig herrschte eine fast peinliche Stille in der Pilotenkanzel.
»Ein perfektes Manöver!« Es hatte fröhlicher klingen sollen. Die Sache war noch nicht gelaufen. Ich musste eine Entscheidung treffen. Wenn ich meinem Bauchgefühl folgte, würde ich damit Jiminy auf dem Grund seines elektronischen Kerns eine verärgerte Reaktion entlocken. Er hasste – ja, das konnte er, obwohl er es stets verneinte – unnötigen Ärger.
Die Verfolgungsjagd am Boden mündete in einen Stillstand. Tröpfelnd kamen die einzelnen Figuren zum Stehen. Zuletzt der Flüchtling. Er sackte, nachdem er mühselig versucht hatte aufzustehen, erneut auf alle Viere nieder. Sein Kopf wandte sich gen Himmel, in unsere Richtung, dennoch blieb das Gesicht im Schatten seiner Kapuze verborgen.
Unausgewogene Chancen waren mir zuwider. Hier einer, der genau das erkannt hatte und die Beine unter den Arm nahm. Da an die dreißig Gegner, die, je länger ich darüber nachdachte, den Flüchtigen gar nicht einholen wollten. Weil es offensichtlich bequemer war, ihn vor sich herlaufen zu lassen. Wohin sollte er auch verschwinden? Treibsand mochte das Spiel rasch beenden, falls die arme Kreatur es in eines der Dünentäler hinunter schaffte.
»Auf was sitzen die da?«, wollte ich von Jiminy wissen. Es interessierte mich nicht wirklich – solange es nicht mit Leguankatzen zu tun hatte. Aber ich wusste: Ein dozierender Jiminy ist ein kurzzeitig zufriedener Jiminy.
»Kamelartige«, erwiderte der Roboter so nahtlos, als habe er die Frage erwartet.
»Kamel-was?«
»Kamelartige. Eine tierische Lebensform, angepasst an besonders trockenes Land. Wüsten. Eine gute, funktionelle Wahl, es als Reittier in diesen Gegenden zu benutzen.«
»Oder es ist einfach eine alternativlose Tradition?«
Jiminy imitierte ein Nicken, das wegen seiner wippenden Fühler stets merkwürdig aussah und mich zum Lachen reizte. »Ist das komisch?«
»Gar nicht«, feixte ich und deutete zur Ablenkung auf den Monitor.
In letzter Sekunde zügelte ein Reiter sein Kamelartiges, bevor herabrutschender Sand ihn und sein Tier im kreisrunden Abgrund des Geschosskraters begrub.
»Glück gehabt«, kommentierte ich und meinte den Fremden – und uns.
»Du hast recht, Mr. Brown. Der Sturz hätte uns angelastet werden können. Ich schätze jedoch, dass es sich weniger um Glück als um die sorgsame Handhabung des Kamelartigen handelt, beruhend auf langjähriger Erfahrung dieses Einheimischen.« Am Ende eines seiner Gliedmaßen, aus der zweiten Reihe, weit oben an seiner Konstruktion, wo bei einem Marsianer der Brustkorb gewesen wäre, entfaltete sich die vierfingrige Kopie einer Hand, ein Daumen, drei Finger. Höchst sensibel dirigierte Jiminy damit die Kamera und suchte sich das vordere Dutzend der mit graugrünen Stoffen vermummten Menschen heraus.
Einer löste sich aus der Menge. Stattlich, leidlich gepflegter, die Stoffbahnen akkurater gelegt und gebunden. Breite Schultern, insgesamt riesig auf dem nicht eben kleinen Kamelartigen. Seine Haltung strotzte vor Selbstbewusstsein. Er wirkte aristokratischer als seine Gefährten. Auf dem Mars wurde diese Ausstrahlung verachtet. Hier verschaffte sie anscheinend Respekt. Sein Umfeld suchte Abstand. Der Anführer, unzweifelhaft männlich, schob seine Kopfbedeckung zurück. Im eng bandagierten Gesicht war ein Schlitz für die Augen frei gelassen worden. Die Konturen des Schädels waren kantig, fast eckig zu nennen. Die Kinnpartie ragte brachial zum Rest der ästhetischeren Proportionen hervor. Eine rostrote, ziemlich dickgliedrige Kette hing dem Mann um den Hals bis hinunter zur Brust. Dort baumelte ein Medaillon, darauf, wie eingraviert, ein unbekanntes Symbol. Nicht genau zu erkennen. Die Vergrößerung geriet hier an ihre Grenzen.
»Sie fühlen sich offenbar durch uns bedroht.« Ein lapidarer Satz, dessen Umkehrschluss auf der Hand lag. Jiminy hatte bestimmt die Reichweite der Geschosse sowie ihre Geschwindigkeit vermessen und ihre Durchschlagskraft geschätzt. Hätte ich sein Talent besessen, wäre ich so vorgegangen. Gegen die Panzerung des Leichten Frachters würde diesen archaischen Waffen kein Erfolg beschert sein.
Ob es der Kerl am Boden nun wusste, ahnte, ob er einfach zu blöd war, das war aus seiner Aktion nicht abzulesen, wie er sich daran machte, eine Art extrem langläufiges Gewehr vom Gurt an seiner Schulter zu ziehen und auf uns anzulegen. Dass Jiminy an Intellekt und Rechenleistung einen deutlichen Vorteil besaß, gestand ich ihm neidlos zu. In marsianisch-menschlichen Angelegenheiten hatte ich ihm einiges voraus. Es war kristallklar, wie sehr sich der Typ jetzt produzieren musste, damit er nicht an Autorität verlor.
»Eine charakterlich nicht ganz einwandfreie Reaktion auf unser Eingreifen«, befand Jiminy. »Der Mann sollte, selbst im stupidesten Winkel seines Gehirns, begreifen, wie sinnlos das Abfeuern der Waffe ist.«
»Das ist nicht der Zweck der Übung, Jiminy. Das hat mit Stolz zu tun.«
»Oder Jähzorn.«
Mag sein, dass der Roboter es besser verstand, einen Charakter zu entschlüsseln, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich war – zugegeben – das lebende Anschauungsmaterial an seiner Seite. Nicht selten schlug ich die klugen Ratschläge der Roboter-KI in den Wind. Wut war, je nach Situation, ein starker Antrieb, ganz besonders, wenn das Überleben im Vordergrund stand.
Etwas Qualm stieg von der Mündung des Gewehres auf, sobald der vermummte Mann zwei Schüsse in kurzer Folge abgab. Kein Geschoss fügte uns einen Schaden zu. Das Klimpern an der Bordwand bildete ich mir wahrscheinlich ein.
»Er hätte mit Steinen werfen können.« Jiminy verschob den Bildausschnitt auf dem Monitor. »Die haben genug. Und ihr Ausreißer ist in Reichweite. Er ruft ein paar aus der Karawane zusammen. Mr. Brown, siehst du die Handzeichen? Man will den Flüchtling einfangen. Es ist vorbei. Wir können uns wieder unserer Aufgabe zuwenden.«
»Wir stehen nicht unter Zeitdruck, oder?«
»Mr. Brown? Was soll das heißen?«
»Mr. Jiminy«, imitierte ich ihn, unterdrückte einen grunzenden Lacher, ehe ich in ein nasetriefendes Prusten ausbrach, weil gleich vier optische Einheiten an der Frontseite seines Schädels über Kreuz hingen, »Mr. Jiminy, hast du den Greifer an der Ladebucht, wie kürzlich besprochen, einer Wartung unterzogen?«
»Den Greifer, Mr. Brown?«, erwiderte der Roboter mit der ihm einprogrammierten Humorlosigkeit – von der ich überzeugt war, dass er sie nur vortäuschte. »Ich habe die turnusmäßige Wartung durchgeführt. Ich fand die Besprechung zuvor gänzlich unnötig ...«
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