Mit Bravour hatte der Elf all diese Hürden genommen und war mit einer überragenden Mehrheit zum neuen Greifenreiter gewählt worden. Nicht zuletzt hatte er das der hohen Lernfähigkeit und Begabung seines Reittieres sowie der tiefen Verbundenheit mit ihm zu verdanken.
Doch nicht nur der außergewöhnliche Intellekt seines Greifen und seine überdurchschnittliche Größe waren es, die ihn deutlich von seinen Artgenossen unterschieden. Auch nicht die ungewöhnliche, samtschwarze Färbung seines Gefieders, welches Kopf und Flügel bedeckte, oder das ebenso schwarze Körperfell war sein ungewöhnlichstes Merkmal. Dieser Greif besaß eine Fähigkeit, die absolut einzigartig war unter den Wesen seiner Gattung: Er konnte sprechen.
Leider hatte er dies bislang ausschließlich im Beisein seines Besitzers getan und niemand glaubte dessen Erzählungen darüber – meist verursachten diese nur Schmunzeln oder gar schallendes Gelächter. Der Elf selbst hätte es wohl nicht geglaubt, hätte er es nicht schon oftmals miterlebt. Wenn der Greif aufgeregt war oder ihn andere starke Emotionen ereilten, entrang sich seinem Schnabel ein klar artikuliertes Wort. Wann und wo er dieses Wort gelernt hatte und warum es anscheinend nur dieses eine war, welches er aussprechen konnte, das war seinem Herrn jedoch ein Rätsel.
Ein aus der Ferne zu ihm dringendes Geräusch – ein Schnaufen und Stampfen, begleitet von einem steten Dröhnen – riss den Elfen aus seinen Gedanken. Eine leichte Vibration, welche das gesamte Gebirge und die angrenzende Steppe zu erfassen schien, ging mit diesem Geräusch einher. Schnell robbte er zurück an den Rand des Plateaus, von wo aus er einen Zug beobachten konnte, der sich aus dem Westen über die bereits fertiggestellte Bahnstrecke näherte.
Es war nicht der erste Zug, den der Elf zu Gesicht bekam. Beinahe täglich zog eine solche schwarz-rot lackierte Dampflok eine Vielzahl nahezu identisch aussehender Waggons voller Material zur Baustelle. Doch der Anblick dieser mechanischen Abscheulichkeiten erschütterte ihn jedes Mal aufs Neue. Warum nur, so fragte er sich abermals, erschufen vernunftbegabte Wesen so widernatürliche Dinge, die ihrer Umwelt in solch hohem Maße Schaden zufügen? Sahen sie denn nicht die dicken Dampfwolken, mit denen dieses Ungetüm den sonst makellos blauen Himmel verdunkelte? Rochen sie denn nicht diesen abscheulichen Gestank nach verbrannter Kohle, Holz und Öl, den es verströmte? Selbst jetzt schon reizte dieser Gestank seine empfindliche Nase, obwohl der Zug noch Meilen entfernt war.
Wahrscheinlich war es ihnen egal, schlussfolgerte der Elf. Dies bekräftigte ihn in seiner Meinung, dass Menschen und Zwerge skrupellose, unsensible Wesen waren, die sich nur von ihrer Gier, ihrer Bequemlichkeit und ihrem absurden Glauben an den technischen Fortschritt leiten ließen.
»Richtige Husos«, benutzte der Elf flüsternd eine unter den Moonytoads übliche Beleidigung, welche die Nachkommen einer wenig keuschen Frau beschreibt. »Irgendwann werden die Götter sie für all ihre Frevel bestrafen. Früher oder später, auf die ein oder andere Art – aber echt ey!«
Der Zug brauchte nicht lange, um sein Ziel zu erreichen. Als ob dieser Koloss nicht schon genug Lärm verursacht hätte, betätigte der Lokführer die Dampfpfeife, bevor er bremste, um die Arbeiter an den Gleisen zu warnen. Diese wichen ein paar Schritte zurück und mit lautem Quietschen und Kreischen kam der Zug schließlich inmitten der Baustelle zum Stehen.
Zunächst konnte der elfische Späher nichts Außergewöhnliches an dem Güterzug entdecken. Dessen Zugmaschine verpestete weiterhin, leise zischend und qualmend, die Luft.
Doch dann lenkte ein lautes Poltern seine Aufmerksamkeit auf einen der schmucklosen, hölzernen Frachtwaggons, auf dessen Außenseite irgendjemand – wahrscheinlich irgendein Halbstarker – obszöne Malereien und Sprüche mit weißer Farbe hinterlassen hatte. Etwas bewegte sich in diesem Waggon, etwas, das so groß war, dass es ihn trotz seiner Größe hin und her schwanken ließ.
Seine Vermutung, dass es sich möglicherweise um Pferde handeln könnte, verwarf der Elf schnell wieder. Mithilfe seiner geschulten Sinne blendete er alle anderen Geräusche der Umgebung aus und statt Wiehern oder Hufschlägen vernahm er nur ein Knurren, das alles andere als freundlich klang.
Auch die anwesenden Arbeiter hatten Notiz von der ungewöhnlichen Fracht genommen. Schnell versammelten sie sich vor dem Waggon wie die Besucher eines Jahrmarktes vor der neuesten Attraktion, was das Interesse des Elfen noch steigerte.
Seine Neugier sollte befriedigt werden, als der Lokomotivführer – ein dicklicher Zwerg in blauer Latzhose mit einer albern aussehenden, blauen Kappe auf dem Kopf – seinen Führerstand verließ und durch die Horde Schaulustiger zu dem Waggon hinüberschlenderte. Er schloss das überdimensional große Schloss auf, welches die breite Schiebetür des Waggons gesichert hatte und schob selbige beiseite. Damit gab er den Blick frei auf die mächtige Gestalt, die im Inneren kauerte.
Ein Raunen ging durch die Menge
Obwohl die Sicht auf dieses Wesen bedingt durch dessen gekrümmte Haltung eingeschränkt war, konnte man erkennen, dass es bestimmt zweieinhalb mal so groß wie ein ausgewachsener Mensch war. Keinerlei Behaarung wies es auf und es besaß menschenähnliche, wenn auch wesentlich gröbere, Gesichtszüge.
Dem Elfen stockte für einen Moment der Atem. Diese Idioten hatten einen Oger gefangen, ein Geschöpf, das für seine Unberechenbarkeit ebenso bekannt war wie für seine Sturheit und seine enormen Körperkräfte. Wenn man ihnen ihre Ruhe ließ, hatte man von Ogern in der Regel nicht viel zu befürchten. Doch diese Narren hatten ihn seiner Ruhe beraubt.
Das war der erster Fehler, den sie begangen hatten.
Der zweite Fehler war es, den riesigen Burschen in einen für ihn viel zu kleinen Waggon zu pferchen. Wohl über Stunden hatte er in unbequemer Haltung dort hocken müssen, was seine Laune gewiss nicht gerade verbessert hatte.
Fehler Nummer drei war die offensichtliche Absicht, den Oger als Lastenschlepper oder anderweitige Arbeitskraft einsetzen zu wollen. Der Elf war sich sicher, die Reaktion auf den nächsten Fehler würde für ihn äußerst amüsant werden, für die Menschen und Zwerge dort unten allerdings bedeutend weniger.
Der Lokführer zog nun an der langen Kette, welche die Handgelenke des Ogers fesselte und gebot ihm so, den Waggon zu verlassen. Knurrend und grollend kam der Gigant dieser groben Aufforderung nach. Bis er seinen massigen Körper ins Freie gewuchtet hatte, dauerte es eine ganze Weile. Seine ausladende Körpermitte – eine enorme Wampe, die über seinem Lendenschurz hing und diesen von vorn fast verdeckte – behinderte ihn dabei nicht unwesentlich. Der Güterwaggon schaukelte, ächzte und knirschte bei jeder Bewegung des massigen Kerls. Als dieser ihn endlich verlassen hatte, gab der Wagen ein Geräusch von sich, das fast schon wie ein erleichtertes Seufzen klang.
»Nun komm schon, du sturer Fleischberg!«, maulte der Lokführer und zog erneut an der Kette.
Doch der riesige Bursche bewegte sich nun keinen Millimeter mehr. Wie angewurzelt blieb er vor dem Waggon stehen, über den er mühelos hinwegsehen konnte. Ausgiebig und lange schaute er sich erst einmal in seiner neuen Umgebung um. Irgendwie machte er dabei einen fast entspannten Eindruck, doch die hasserfüllten Blicke, mit denen er die anwesenden Arbeiter musterte, ließen nichts Gutes erahnen.
Ein weiterer Zwerg eilte dem Lokführer zu Hilfe, dann ein Mensch und schon bald waren es drei Menschen und drei Zwerge, die an der Kette zerrten. Das hatte allerdings nur zur Folge, dass die überproportional langen Arme des Ogers, welche beinahe bis zum Boden reichten, ein wenig nach vorne gezogen wurden. Es sah fast so aus, als würden sich die Arbeiter in einem Tauziehen mit dem kahlköpfigen Hünen messen.
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