»Los, komm her«, rief er Jacob zu. »Wir wollen die Mühle wieder aufbauen.«
Jacob war verwirrt. Was sollte das heißen: Er gab ihm nicht die Schuld? Warum sollte er ihm auch die Schuld geben? Was konnte er dafür, dass diese Kerle, Rosas Bruder und ihr Verehrer, die Mühle kaputt gemacht hatten?
Jacob zog einen Stapel Papiere aus seiner Hasenfelltasche und eilte mit einem Stück Brot in der Hand aus der Mühle hinaus. Schon im Gehen biss er eine große Ecke ab. Auf der Rückseite des Gebäudes ließ er sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf den Boden nieder und fummelte sein hölzernes Tintenfass und den Federkiel aus seiner Tasche hervor. Nebenbei verschlang er das Brot so hastig, als würde es ihm sonst jemand wegnehmen. Nachdem er den letzten Krümel auf diese Weise hinuntergeschluckt hatte, stürzte er sich auf den Text, der sich bereits auf einigen Seiten befand, indem er die Blätter auf seinen Oberschenkel legte und mit dem Kiel in der linken Hand Geschriebenes durchstrich oder Notizen an den Rand hinzufügte. Seine Haare, die ihm aufgrund seines vorgeneigten Kopfes ständig ins Gesicht fielen, strich er mit einer unbewussten Geste immer wieder hinter die Ohren. Als er die Überarbeitung des vorhandenen Textes beendet hatte, sah er eine Weile auf den See. Er spürte dabei einen absoluten inneren Frieden.
Und plötzlich wusste er, wie es weiterging in der Geschichte. Aufgeregt wendete er sich den leeren Blättern zu und schrieb eilig auf, was ihm eingefallen war.
Dieser Vorgang – auf den See blicken, anschließend schreiben – wiederholte sich einige Male, mindestens eine Viertelstunde lang. Dann zuckte er vor Schreck zusammen, als Herold, den er nicht hatte kommen hören, ihn unvermittelt ansprach.
»Tut mir leid, Jacob, aber du musst mir jetzt weiter helfen.«
Jacob sah zu seinem Bruder auf. Er stand keine zwei Meter von ihm entfernt und machte ein Gesicht, als wollte er sich für die Unterbrechung entschuldigen. Dann wandte er sich ab und verschwand hinter der Rundung der Mühlenwand.
Seit diesem Wutausbruch vor zwei Tagen war er wieder ganz der Alte. Er war voller Tatendrang, wobei sich alles nur um die Mühle drehte. Von der Tagelöhnerarbeit war keine Rede mehr gewesen, aber es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis das Thema erneut aufkam. Schließlich hatten sie bald kein Geld mehr. Jacob hatte jetzt kaum noch Gelegenheiten zu schreiben. Wenn er erst mal von morgens bis abends als Tagelöhner schuften würde, hätte er gar keine Zeit mehr dafür.
Mit zusammengepressten Lippen raffte er die Blätter zusammen und verstaute sie wieder in der Tasche. Wenn er am Abend nicht zu kaputt war, hatte er vielleicht noch einmal Gelegenheit zu schreiben. Er erhob sich und folgte Herold in die Mühle, im Gedanken weiterhin bei seiner Geschichte. Herold stand dort an einem großen, hölzernen Zahnrad. Doch das bemerkte Jacob nur nebenbei, während er über den Fortgang der Handlung nachdachte.
»Willst du mir jetzt vielleicht mal helfen?«, hörte er Herold schließlich sagen. Jacob sah ihn an. Sein Bruder lächelte und schüttelte leicht den Kopf. »Aha, bist du jetzt wieder in dieser Welt?« Er klopfte auf das Zahnrad. »Nun pack endlich mit an.«
Das Zahnrad sah aus, als wäre eine Herde Rinder darüber hinweg gelaufen.
»Na, das hat wohl auch schon bessere Tage erlebt«, sagte Jacob.
»Ja, das ist das alte Zahnrad, das zerstört war. Ich habe es einigermaßen repariert, um Geld zu sparen, weil wir noch genug andere Ersatzteile kaufen müssen. Hoffentlich hält es eine Weile durch.«
Jacob hatte sich dem Zahnrad genähert, begriff aber nicht, was er machen sollte. Herold lächelte weiterhin mild. Er wusste, wie unbeholfen Jacob sich anstellte, wenn es um technische Dinge ging.
»Du musst es dort anfassen und mit anheben«, erklärte er. »Wir stecken es dann auf diese Welle, die ich schon dafür vorbereitet habe.«
Er deutete auf ein zylindrisches Bauteil, das in Jacobs Brusthöhe aus dem Durcheinander der anderen Bauteile hervorstand. Oben auf diesem Bauteil saß etwas Rechteckiges drauf. Jacob fragte sich gerade, was es wohl damit auf sich hatte, da erläuterte es Herold schon für ihn.
»Diese Einkerbung in der Nabe«, er deutete auf eine eckige Aussparung, die oberhalb des runden Lochs in der Mitte des Zahnrads war, »müssen wir auf dieses rechteckige Teil schieben. Dann haben die beiden Bauteile eine Verbindung, mit der die Kraft des Windes übertragen werden kann.«
»Aha«, sagte Jacob. Da sein technisch begabter Bruder es sagte, musste es wohl stimmen, auch wenn ihm nicht klar war, wie das funktionieren sollte.
Zusammen wuchteten sie das Zahnrad hoch. Während Herold es scheinbar mühelos anheben konnte, musste Jacob sich enorm anstrengen. Sie schoben es, wie Herold vorher beschrieben hatte, auf diese sogenannte Welle. Für Jacob waren Wellen etwas ganz anderes. Er musste an den See denken und wie ihm beim Beobachten der Wellen immer gute Ideen für seine Geschichte kamen.
»So, jetzt musst du von außen gegendrücken. Dann kann ich es befestigen.«
Jacob tat, wie ihm geheißen und stemmte sich gegen das Zahnrad. Herold holte eine große Holzscheibe und schob sie ebenfalls über die Welle. Anschließend nahm er einen Bolzen und schlug ihn mit einem Hammer genau vor der Scheibe in ein Loch, das Jacob erst jetzt bemerkte, quer durch die Welle.
»Du kannst loslassen«, sagte Herold und grinste über das ganze Gesicht. »Gut gemacht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Kraft doch in deinem kleinen Körper steckt.«
Jacob trat von dem Zahnrad zurück.
»Findest du?« Er war noch gedanklich bei seinem See. »Sag mal, warum heißt das Ding eigentlich Welle? Wir haben doch eine Windmühle und keine Wassermühle. Was haben wir also mit Wellen zu tun?«
Herold lachte auf.
»Das Bauteil wird nunmal so genannt, auch wenn wir mit Wasser nichts zu tun haben. Wenn gerade mal wieder Flaute ist, wünsche ich mir allerdings manchmal schon, wir hätten eine Wassermühle.«
»Ja, das ist schon zu dumm. Wir haben einen ganzen See voller Wasser mit richtigen Wellen vor der Haustür und können ihn nicht nutzen«, lachte Jacob, denn er konnte sich über solche Wortspielereien köstlich amüsieren. »Vielleicht sollten wir, statt zu hoffen, dass dem lieben Gott nicht die Puste ausgeht, lieber das Wasser mit Eimern auf die Flügel schütten.«
Mit einem Schlag wurde Herold ganz ernst.
»Was ist?«, gluckste Jacob weiter. »Kannst du solche Scherze über deine geliebte Mühle nicht ertragen?«
Herolds Augen verengten sich. Er sah aus, als hätte er gerade auf den See geschaut und einen Einfall gehabt.
»Mit Eimern sagst du? ... hmm.« Er sah zu Boden und machte einige Schritte durch die Mühle, als suchte er etwas, das ihm runtergefallen war. Dann wandte er sich wieder Jacob zu. »Wer sagt, dass wir das Wasser im See nicht nutzen können?«
Endlich saß Jacob mal wieder an dem kleinen Tisch in seiner Kammer und schrieb an seiner Geschichte. Seitdem Herold ihn am Vortag zum Helfen in die Mühle geholt hatte, war es das erste Mal, denn abends war er so müde, dass er es gerade noch so ins Bett geschafft hatte. Er hoffte, dass er heute ein wenig durchhalten würde, bevor die Konzentration nachließ. Eine Seite hatte er immerhin schon geschrieben und die Ideen sprudelten momentan nur so aus ihm heraus, auch ohne die Wellen des Sees.
Mit seiner Bemerkung über die Nutzung des Wassers hatte er sich schön was eingebrockt. Permanent redete Herold seitdem von seinem Einfall. Woraus der genau bestand, wusste Jacob immer noch nicht. Er wurde aus Herolds Geschwafel über künstliche Becken und Becherwerke einfach nicht schlau. Es war nur zu hoffen, dass dieses Hirngespinst bald wieder der Vergangenheit angehörte und Herold zur Normalität zurückkehrte. Dann würde das unverständliche Gerede endlich ein Ende haben.
Читать дальше