Gruning erhob sich schmunzelnd.
»Na, dann kommen Sie mal mit nach hinten durch, damit ich mir das Buch genauer ansehen kann.«
Er drehte ihr den Rücken zu, wieder ganz in der Betrachtung des Einbandes vertieft, und ging durch einen Vorhang voran ins Hinterzimmer. Editha folgte ihm mit Timo.
Als sie durch den Vorhang traten, saß der Mann bereits an einem Schreibtisch und zog ein Vergrößerungsglas heran, das mit einer verstellbaren Halterung, wie bei einer alten Schreibtischlampe, an den Tisch angebracht war. Damit betrachtete er eine ganze Weile das Äußere des Einbandes. Falls er etwas dabei feststellte, ließ er es sich nicht anmerken, und er äußerte sich auch nicht dazu.
Dann schlug er das Buch auf, blätterte auf die erste beschriebene Seite und betrachtete sie.
»Oh, nein«, sagte er und blätterte weiter, überblätterte ein paar verblasstere Seiten und sagte wieder »oh, nein «.
Editha verließ ihre ganze Hoffnung. Dann würde sie wohl nicht erfahren, was in dem Buch stand. Vielleicht war deshalb nur der eine Abschnitt übertragen worden, weil der Rest nicht leserlich war.
»Dann ist demnach also nichts zu machen? Sie können die Schrift nicht in lateinische Buchstaben übertragen?«
Gruning sah sie überrascht an.
»Wie bitte? Nein. Doch. Natürlich kann ich die Schrift übertragen. Ich kann nur gar nicht glauben, was Sie mir hier für ein Schmuckstück gebracht haben. Das ist ja eine ganz hervorragende, alte Schrift.«
Edithas Hoffnung kehrte zurück, ihr Herz machte einen Hüpfer.
»Dann können Sie sie lesen?«
»Aber ja doch. Das ist Kurrentschrift, eine Laufschrift, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland verwendet wurde. Der Verfasser dieser Zeilen hat zwar eine - sagen wir mal - etwas eigenwillige Schrift und manche Buchstaben werden auch noch unterschiedlich ausgeführt, aber sie ist absolut lesbar.«
»Und die verblichenen Seiten? Die kann man wohl vergessen, oder?«
»Nein, überhaupt nicht. Da gibt es Methoden, den Kontrast wieder zu vergrößern. Das kriege ich hin.« Er klappte das Buch zu und besah es sich von der Seite. »Allerdings dauert das eine Weile und dementsprechend wird das auch kein billiger Spaß. Dieser Schinken hat bestimmt 500 Seiten. Wenn ich die alle übertrage, wird der Preis so um die 1.000 Euro betragen, vielleicht etwas weniger.«
Die gerade aufgekeimte Freude verpuffte wieder.
»Oh, nein! Unmöglich, das kann ich mir nicht leisten.«
Sie dachte an die ganzen Rechnungen auf ihrem Schreibtisch. Auf keinen Fall konnte sie sich weitere Schulden aufladen. Dabei hätte sie so gerne gewusst, was in dem Buch stand. Was es mit diesen Visionen auf sich hatte.
Gruning musste ihr die Enttäuschung angesehen haben. Fast mitleidig schaute er zu ihr hoch.
»Pass auf, Mädchen, ich mach´ dir einen Vorschlag: Ich übertrage erst mal ein paar Seiten, sagen wir mal die ersten zehn. Danach kannst du es dir immer noch überlegen, ob ich weiter machen soll. Was hältst du davon?«
Dieser Vorschlag war vielleicht gar nicht so schlecht. Ein paar Seiten würde sie sich leisten können.
»In Ordnung. Wann haben Sie das fertig?«
»Hm, das muss ich nebenbei machen. Zwei, drei Tage werde ich wohl brauchen. Ich melde mich, wenn ich fertig bin.«
Das Aufräumen der kaputten Mühle dauerte länger, als Jacob gedacht hatte. Er hatte das gesamte Ausmaß des Schadens nicht ansatzweise erkannt, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Im Nachhinein fanden sie noch unzählige Beschädigungen und herumliegende Bauteile. Und nicht alles ließ sich so einfach beseitigen, wie der Haufen Scheiße. Sie brachten einige Tage damit zu, verkeilte Holzstücke aus den Getrieben zu entfernen, immer vorsichtig, um die noch brauchbaren Bauteile dabei nicht zu beschädigen. Die kaputten Teile sammelten sie hinter der Mühle. Die wollten sie zunächst behalten, falls sie teilweise bei der Reparatur zum Ausbessern verwendbar waren.
Heute Morgen hatte ein Bote der Stadt ein Schreiben überbracht. Darin wurde ihnen noch einmal mitgeteilt, was der Ratsherr von Zölder im Rathaus bereits gesagt hatte: Sie sollten die Mühle wieder aufbauen, auf ihre eigenen Kosten und bei weiter laufendem Pachtzins. Es wurde erneut ausdrücklich betont, dass es für die Stadt Oldenburg unerheblich war, wie sie das anstellten. Der amtliche Stempel unter dem Schreiben grinste Jacob höhnisch an, nachdem er Herold vorgelesen hatte.
In einer Pause – sie hatten gerade die Aufräumarbeiten abgeschlossen und wollten mit dem Wiederaufbau anfangen – begann Herold wieder von dem Brief zu sprechen.
»Dieser verdammte Ratsherr«, sagte er, bestimmt bereits zum zehnten Mal. »Ich bin mir nicht sicher, ob der das überhaupt so einfach bestimmen darf.« Und nach einer kurzen Pause. »Aber was wollen wir dagegen tun?«
Jacob kaute weiter auf seinem Brot und antwortete nicht. Die Frage hatte Herold schon mehrfach gestellt. Sie war nicht an Jacob gerichtet.
»Wir werden uns nach Arbeit umsehen müssen.«
Jacob horchte auf. Das war seit der Zerstörung der Mühle das erste Zukunftsweisende, das Herold von sich gab. Aber Jacob erkannte sogleich einige Probleme, die dieses Vorhaben mit sich brachte.
»Nach was für Arbeit? Wir können doch nichts anderes außer der Arbeit des Müllers.«
»Oh, das glaube nicht. Ein Müller kann so manches. Ich habe erfahren, dass die Gerber noch Leute suchen. Notfalls müssen wir uns halt als Tagelöhner verdingen.«
Als Gerber! Jacob hatte schon viel von dieser Arbeit gehört. Schwere Tierhäute musste man dabei schleppen, ständig panschte man im Wasser herum und war ätzenden Dämpfen und Gasen ausgesetzt. Darauf konnte er gut verzichten.
»Aber als Tagelöhner wird man schlecht bezahlt. Wenn wir davon leben wollten, müssten wir viele Stunden dort arbeiten. Wer repariert dann die Mühle?«
Herold, dessen Gesichtsausdruck seit Tagen verdrießlich war, schaute tatsächlich noch verdrießlicher drein.
»Ich weiß, dass das ein Problem ist und dafür habe ich bisher keine Lösung. Doch fest steht, dass wir Geld brauchen. Wir haben zwar ein paar Reserven, doch die reichen nur, um uns ein paar Tage über Wasser zu halten. Wir müssen eine Arbeit annehmen. Vielleicht nimmst auch nur du eine an und wir leben dann beide davon, während ich mich mit Friedhelms Hilfe um die Mühle kümmere.«
»Das reicht doch niemals. Als Tagelöhner könnte ich doch nicht so viel verdienen, dass wir beide davon leben und auch noch Friedhelm bezahlen könnten.«
»Dann müssen wir uns eben einschränken.« Herold wurde lauter, bis er fast schrie. »Verdammt, ich weiß es doch auch nicht.«
Er sprang auf und schleuderte seinen Blechteller zu Boden. Die paar Krumen, die sich noch darauf befunden hatten, kullerten in alle Richtungen. Mit geballten Fäusten ging er ein Stück auf den See zu.
Jacob hatte vor Schreck aufgehört zu kauen. Wenn Herold, der sonst immer die Ruhe und Besonnenheit selbst war, so aus der Haut fuhr, musste es in seinem Inneren schlimm zugehen. Er stellte seinen Teller ebenfalls auf den Boden und ging Herold nach.
»Wir kriegen das schon irgendwie hin«, sagte er, obwohl er nicht daran glaubte. »Du wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung.«
Herolds Fäuste entspannten sich. Nach einer Weile drehte er sich langsam zu Jacob um. Sein Gesichtsausdruck war jetzt weder wütend noch verdrießlich. Er schaute Jacob prüfend an.
»Entschuldige«, sagte er. »Du musst auch einiges durchmachen und dann benehme ich mich derart.« Er fasste Jacob bei den Schultern. »Ich verspreche dir, dass das jetzt anders wird. Und noch eins: Mache dir keine Sorgen, ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist.«
Er sah zur Mühle, ließ Jacob los und schritt mit entschlossener Miene die Anhöhe hoch.
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