Seufzend nahm er die Sektflasche, bevor er den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und ausstieg. Nachdem er das Auto versperrt hatte, betrat er sein Cottage. Er hatte es kurz vor der Hochzeit mit Trish gekauft. Es lag auf einer Anhöhe etwas außerhalb von St. Agnes und war von dichtem Laubwald umgeben. Fast so, als wäre man von der Außenwelt abgeschnitten. Ein kleines Paradies, in dem Kinder toben könnten …
Als Roger die Tür zum Wohnzimmer öffnete, schlug ihm anheimelnde Wärme entgegen. Die gute alte Doris hatte ihn gestern angerufen und gefragt, wann er zurückkäme. Sie besaß einen Zweitschlüssel und behielt sein Haus stets im Auge, wenn er nicht da war. Noch dazu sorgte sie jedes Mal für einen lodernden Kamin. Wie auch jetzt. Die Flammen fraßen sich knisternd durch das Holz, als hätte sie die Scheite gerade erst entfacht. In der Ahnung, dass er später kommen würde. Manchmal war ihm die Achtzigjährige fast unheimlich. Immerhin hatte er sich für den Nachmittag angekündigt, ließ sich jedoch Zeit und nahm einige Umwege, weshalb es bereits acht war, wie ihm ein Blick auf die alte Pendeluhr neben dem schwarzen Ledersofa zeigte.
Roger stellte die Flasche auf den Glastisch und zog sich den Mantel aus. Als er ihn auf die Couch gelegt hatte, klopfte es an der Tür. Eigentlich hatte er keine Lust auf Besuch, weshalb er missmutig die dunkelgrüne Pforte öffnete. „Doris“, begrüßte er seine unmittelbare Nachbarin und lächelte, weil sie einen Topf in den Händen hielt, aus dem es dampfte. „Erstens hast du einen Schlüssel und zweitens musst du nicht ständig für mich kochen. Du hast genug Arbeit.“ Trotz ihres hohen Alters führte sie nach wie vor die kleine Privatpension und war die Einzige, über deren Besuch er sich nun doch freute.
„Da ich dein Lotterleben kenne, habe ich wenig Lust, dich nackt mit irgendeinem Sternchen zu sehen und zum anderen sind die letzten Gäste heute abgefahren. Um wen soll ich mich sonst kümmern? Du kennst mich. Ich hasse Untätigkeit.“ Schon stakste sie auf ihren schwarzen Stöckelschuhen an ihm vorbei. Da Schnee in St. Agnes eine Rarität war, musste sie auch im Winter nicht auf ihre geliebten hohen Schuhe verzichten.
Roger warf die Tür zu und folgte ihr in die Küche, die sich neben dem Wohnzimmer befand. Ein Rundbogen verband die beiden Räume und erst jetzt fiel ihm der Mistelzweig auf, der davon herunterbaumelte.
„Hast du das fabriziert?“ Roger deutete zum Rundbogen.
„Gefällt es dir?“ Umsichtig stellte sie den Topf auf den Gasherd.
„Einen größeren Nagel konntest du wohl nicht finden“, schimpfte er halbherzig, obwohl der Kirschholz-Rahmen kostspielig gewesen war, aus dem ein mindestens zehn Zentimeter langer Nagel ragte, der zu allem Überfluss schief eingeschlagen war. Von den Löchern im direkten Umfeld ganz zu schweigen. Wie es aussah, hatte sie einige Versuche gestartet, um den Mistelzweig aufzuhängen.
„Die Leiter hat gewackelt“, meinte sie lapidar und öffnete die Schublade neben dem Herd, aus der sie die Kelle entnahm. Doris kannte sein Heim in- und auswendig. „Wie war es in London? Konntet ihr euch einigen?“
Roger setzte sich an den Tisch im verglasten Erker. Dabei fiel sein Blick auf Doris’ weiß getünchtes Cottage. Bunte Lichterketten schmückten die Vorderseite des Daches. Hinter den Fenstern leuchteten Sterne, Schneemänner und Engel. Der kleine Baum vor dem Haus blinkte wie eine Discokugel. Ebenso wie der Schlitten und die Rentiere. Selbstredend, dass Doris ebenfalls ein vergrößertes Foto ins rechte Licht rückte. Es zeigte ihre Großeltern, die früher einen Süßwarenladen in St. Agnes betrieben, bevor Doris’ Eltern das Cottage zur Privatpension umfunktionierten. „Nicht so wirklich“, antwortete Roger und fühlte erst jetzt, wie erschöpft er war.
„Ich habe es von Anfang an gewusst“, gab Doris launig von sich. „Trish ist eine falsche Schlange. Aber du wolltest ja nicht hören.“
„Du hast nie etwas gesagt“, erinnerte Roger sie an diese Tatsache.
„Jeder muss eigene Fehler machen, um daraus zu lernen.“ Mit flinken Händen holte sie einen Teller aus dem Schrank über sich und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. „Und ganz unter uns: Was hätte mein Einmischen genützt? Du hättest dir nichts sagen lassen. Genauso wenig wie bei deiner Trinkerei. Hätte ich dir ins Gewissen geredet, wärst du rund um die Uhr besoffen gewesen. Du warst ohnehin nahe daran.“ Sie schöpfte Reisauflauf in den Teller, legte die Kelle ab und drehte sich zu ihm um. „ Ich habe dich bei der Bank verpfiffen. Die Abmahnung geht demnach auf meine Kappe.“
„Du hast dafür gesorgt?“, entfuhr es Roger, der insgeheim schmunzeln musste. Das schlechte Gewissen stand ihr förmlich ins faltige Gesicht geschrieben.
Sie nickte. „Jetzt kannst du mich erschießen.“
„Wenn wir unter dem Mistelzweig stünden, würde ich dich eher küssen.“
„Du bist nicht böse?“, vergewisserte sie sich und starrte ihn mit ihren großen blauen Augen an, die sie wie üblich mit blauem Lidschatten betonte. Das schwarze Lockenhaar erinnerte an die Wildheit des Meeres. Ihre schmale Gestalt an einen zarten Ast, der jede Sekunde zu zerbrechen drohte. Doch das täuschte. Doris war die stärkste Frau, die er je kennengelernt hatte.
„Anfangs war ich natürlich nicht erfreut, aber mit Abstand betrachtet hast du mir damit einen großen Gefallen getan.“ Roger verließ den Tisch und trat vor Doris hin, die zwei Köpfe kleiner war. „Du hast mich vor einer Riesendummheit bewahrt. Ab jetzt beginnt ein neues Leben und ehrlich gesagt hätte ich dieses Haus bis vor kurzem am liebsten verkauft. Ich bin froh, dass ich es nicht getan und dich weiterhin an der Backe habe. Du bist stur wie ein Esel, neugierig und redest am liebsten den ganzen Tag lang.“ Sie lächelte ihn spitzbübisch an und zeigte ein makelloses drittes Gebiss. Auf ihr Aussehen legte Doris extremen Wert und war früher eine wunderschöne Frau gewesen, wie alte Aufnahmen bewiesen. „Nebenbei liebenswert, mütterlich und eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Jetzt weiß ich auch wieder, was mich in St. Agnes hält. Menschen wie du und wenn du jünger wärst, könnte ich für nichts garantieren“, neckte er sie.
„Ach Roger, für mich wärst du als Toy-Boy viel zu alt.“ Sie lachte schallend. „Und nun lass uns essen“, verkündete sie übermütig, als sie sich beruhigt hatte. „Danach sollten wir über dein Haus sprechen. Ich bin es leid, dieses traurige Etwas ständig vor Augen zu haben.“
„Wir können über vieles reden“, wehrte sich Roger im Wissen, was sie mit ihrer Aussage bezweckte, „aber der Mistelzweig ist für meine Begriffe genug an Weihnachtsdekoration. Ich hasse dieses Fest und bin froh, wenn es vorbei ist.“
„Bei mir ist es genau andersherum“, entgegnete sie mit glänzenden Augen, „Weihnachten hat eine ganz eigene Magie. Vor allem in St. Agnes. Eines Tages wirst du sie auch spüren. Lass mich nur machen, Kleiner.“
„Den zerquetsche ich wie eine Fliege.“ Mrs. Hart-Divorces Faust klatschte gegen die flache Hand, während sie hinter dem Schreibtisch einige Schritte hin und her stapfte. Wiederholt fragte sich Emma, ob sie tatsächlich eine gute Entscheidung getroffen hatte. Diese maskuline Frau im grauen Kostüm mit der riesigen Masche am Hinterkopf - die ihren rattengrauen Pferdeschwanz zusammenhielt - wirkte nicht wie eine Anwältin, sondern wie ein Guerilla-Kämpfer. „Sind Sie dabei, Prinzessin?“
„Äh, meinen Sie mich?“ Emma blickte schnell hinter sich, bevor sie erneut die Anwältin ins Auge fasste, die mittlerweile wie eine Salzsäule vor dem verstaubten Fenster stand. Gurrende Tauben tummelten sich draußen auf dem schmalen Sims. Manche trafen mit dem Schnabel das Glas. Es hörte sich an, als ob sie hereinwollten. Emma hätte die andere Richtung bevorzugt.
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