1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 „Jetzt übertreib mal nicht“, wurde Emma verlegen.
„Siehst du?“ Strafend blickte Linda sie an. „Du kannst nicht einmal Komplimente annehmen. Dabei stimmt es. Nicht umsonst nennt man dich die Zauberin der Carnaby Street.“
Natürlich war Emma diese Bezeichnung zu Ohren gekommen und insgeheim schmeichelte sie ihr sehr. Ein schöner Lohn für die harte Arbeit, das ständige Weiterbilden und die Kreativität, fortwährend neue Backrezepte aus dem Hut zu zaubern. „Ich wünschte, Dad könnte das genauso sehen“, beklagte sich Emma, die sich voller Bitterkeit fragte, wie ihr Vater wohl auf die Trennung von Brandon reagieren würde. Vermutlich mit dem Satz, dass er ohnehin immer gewusst hatte, dass diese Ehe nicht lange halten würde. „Genug lamentiert. Jetzt rufe ich im Geschäft an, bevor ich mir einen Anwalt suche.“
„Lieber eine Anwältin“, riet Linda, als sie sich erhob. Der edle Stoff ihres schwarzen Hosenanzuges glänzte im Schein des Tageslichtes, das durch die Panoramafenster fiel. „Frauen kämpfen mit härteren Bandagen, weil sie solidarisch mit uns sind. Also, Süße, mach es dir gemütlich. Du kannst so lange bleiben wie du willst. Wir sehen uns abends.“
Fünf Minuten später war Emma alleine im erlesen eingerichteten Appartement. Linda war Produkt-Managerin und verdiente gut, weswegen sie sich sowohl die Lage an der Themse als auch teure Möbel leisten konnte. Beruflich hatte ihre Freundin alles erreicht, privat fiel das Resümee leider traurig aus. Seit über sechs Jahren war sie Single nach einer überaus glücklichen Ehe, die der Tod von einer Sekunde auf die andere beendet hatte. Ihr Mann Willy starb bei einer Rafting-Tour. Er hatte die Strömung unterschätzt. Es dauerte lange, bis Linda über diesen unfassbaren Schicksalsschlag hinwegkam. Sofern sie das je schaffen würde.
Seufzend erhob sich Emma und räumte den Tisch ab. Nachdem sie die Küche sauber gemacht hatte, wählte sie die offizielle Geschäftsnummer. Wie erhofft hob eine der Servicekräfte ab, die förmlich nach Luft schnappte, als sich Emma krankmeldete. Tiff würde tatsächlich toben, das war so sicher wie das Amen im Gebet. Allerdings öffnete es ihrer Schwester vielleicht die Augen darüber, was sie Tag für Tag leistete.
Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte Emma in die Jogginghose und das weiße T-Shirt. Linda hatte ihr beides auf die Waschmaschine gelegt. Nach einem kurzen Blick in den beleuchteten Spiegel ging sie ins Wohnzimmer zurück, griff zum Handy und googelte nach einer Anwältin. Eine stach ihr sofort ins Auge: Ruth Hart-Divorce. Ein ziemlich vielversprechender Name. Hastig speicherte sie Namen und Nummer in ihr Handy ein und starrte anschließend auf die Zahlen.
Das war es also mit ihrer Ehe. Vorerst auch mit den Plänen, Kinder zu haben. Eine Familie zu gründen. Nichts hatte sie sich in den letzten Jahren sehnlicher gewünscht. Leider hatte es nicht geklappt - wobei das aufgrund des mangelnden Sexes kein Wunder war. Auf der anderen Seite musste sie nach dem Fiasko mit Brandon froh darüber sein. Bei einer Scheidung wären Kinder die Leidtragenden und so gesehen hatte es das Schicksal schon richtiggemacht. Ihre Zeit würde kommen. Irgendwann. Denn noch hatte sie den Glauben an die wahre Liebe nicht verloren. Vielleicht wäre es so, wenn der Fremde nicht ihren Weg gekreuzt hätte, dessen Kuss sie noch jetzt auf ihren Lippen zu spüren glaubte.
Die Dämmerung brach bereits herein, als Roger seinen Honda über die Küstenstraße lenkte. Fast alle Eigenheime waren weihnachtlich geschmückt. Vor vielen standen die obligatorischen Bäumchen, die jedes Jahr von den freiwilligen Helfern ab November verteilt und aufgestellt wurden. Auch für die bunten Lichter entlang der Hauptstraßen sorgten sie. Bei manchen Häusern wurden sogar alte oder neue Fotos von St. Agnes und der Umgebung festlich in Szene gesetzt. Eines der größten Bilder befand sich auf der Stirnseite des Heimes, das man als Erstes sah, wenn man in St. Agnes ankam.
Ankommen. Ein Wort, das in Roger nachklang. Tat er es denn? Jetzt, da er aus London zurück war, stellte sich die Frage, ob ihn etwas in St. Agnes hielt. Sicher, er hatte einen guten Job und einen netten Freundeskreis. Aber sonst?
Im Grunde ließ es sich hier gut leben. Ein Paradies, in dem andere Menschen Urlaub machten. Von den vielen Touristinnen ganz zu schweigen, die ihm einige angenehme Stunden bereitet hatten. Die Auswahl war so groß wie die Zahl der einsamen Herzen, die es in ihr idyllisches Küstendörfchen verschlug. Doch sich mit Frauen und Alkohol zu betäuben hatte irgendwann seinen Sinn verloren. Bloß weil ihm Trish so übel mitspielte, hätte er beinahe sein Leben weggeworfen. Dabei war es diese Frau nicht im Geringsten wert!
Roger verscheuchte ihr Bild. Die Erinnerung an sie. Stattdessen blickte er zu Annies Schmuckladen, an dem er vorbeifuhr. In den Schaufenstern glitzerte Lametta und einige Kugeln hingen an Schnüren herab. Die versilberten Äpfel auf dem Baum glänzten im Schein der Lichterkette, die sich über die Fassade, um die Äste und den Stamm wand. Wie es Annie wohl ging? Vermutlich tausendmal besser als ihm. Angeblich war sie mit Jack und Leni in New York. Eine Aushilfe kümmerte sich in den Wintermonaten um das Geschäft.
Annie hatte das große Los gezogen und er gönnte es ihr, obwohl sie das sicher nicht glauben würde. Für sie blieb er wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit das Arschloch und zugegeben, er hatte es nicht anders verdient. Trotzdem setzten ihm die Gerüchte zu, die sich um ihn und Trish rankten. Die Leute in St. Agnes hatten ja keine Ahnung!
Zehn Minuten später parkte Roger vor seinem Haus. Es lag völlig im Dunkeln. Keine Beleuchtung, nichts. Selbst das Bäumchen fehlte, weil er sich vehement gegen diesen Brauch sträubte. Weihnachten war ihm seit jeher ein Gräuel. Seine Eltern lagen sich gerade an diesen Feiertagen ständig in den Haaren. Von wegen die Zeit der Liebe und des Friedens. Bei ihnen herrschte regelmäßig kalter Krieg.
Missmutig blickte Roger vor sich hin, bis sein Blick zur Sektflasche auf dem Beifahrersitz glitt. Seit er London verlassen hatte, spukte ihm die fremde Frau ständig im Kopf herum. Dabei war er ungern in die Weltmetropole gefahren, wozu ihn zwei unangenehme Termine zwangen, was er vor der Unbekannten niemals zugegeben hätte.
Zum einen hatte ihn Mister Hall wegen seiner Trinkerei in die Zentrale zitiert und las ihm ordentlich die Leviten. Entgegen Rogers Annahme gab ihm der Geschäftsführer trotzdem eine zweite Chance. Wesentlich unangenehmer gestaltete sich seine Unterredung mit Trish am nächsten Tag, die gründlich in die Hose ging. Deswegen war er durch die Stadt geirrt und hatte sich schließlich auf der Aussichtsplattform wiedergefunden. Und da hatte sie gestanden. Diese Frau, mit der er sofort Mitleid empfand, obwohl er nicht besser war als ihr Brandon.
„Emma.“ Roger ertappte sich dabei, dass er lächelte. Im Gegensatz zu ihr wusste er durch das Gespräch mit diesem Brandon, wie sie hieß. Zumindest kannte er ihren Vornamen. Er passte zu ihr, weil er etwas Unschuldiges hatte. Aber auch etwas, das seinen Beschützerinstinkt weckte und das Verlangen, sie nach der Pleite mit ihrem Mann nicht alleine zu lassen. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, genoss er ihre Gesellschaft zu sehr, um den Abend schnell enden zu lassen. Es war schön, an ihrer Seite durch London zu schlendern. Mit ihr zu reden. Ihre bescheidene und fast schüchterne Art berührte ihn auf seltsame Weise, die jedoch in Kratzbürstigkeit und Trotz umschlagen konnte. Launisch wie das Wetter in St. Agnes, das sich ebenfalls von einer Sekunde auf die andere ändern konnte. Doch ob Sturm oder Sonnenschein, in allem lag eine beeindruckende Schönheit und Kraft. Wie in dieser Frau, die er nur ein paar Herzschläge lang küsste. Ihre Lippen waren zart und nachgiebig gewesen und er hätte sich weit mehr vorstellen können, aber er ahnte, dass sie keine für eine Nacht war. Nicht einmal eine, um sie hemmungslos auf der Straße zu küssen. Deshalb riss er sich zusammen, obwohl es ihm schwergefallen war. Eigentlich lachhaft. Außer bei Trish hatte er sich weder vorher noch nachher sonderlich viele Gedanken um die Frauen gemacht. Sogar im Bett ging es immer nur um seine eigenen Bedürfnisse. Sex ohne Gefühle, danach hatte er größtenteils gelebt.
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