1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 „Normalerweise würde ich Sie spätestens jetzt für ziemlich arrogant halten“, beanstandete Emma, „allerdings ist der Vergleich nicht schlecht. Doch den meine ich nicht.“
„Gut. Bei mir zuhause wird das nämlich ständig behauptet. Ich kann es nicht mehr hören.“
„Fühlen Sie sich etwa nicht geschmeichelt?“
Er zerknüllte die Serviette und warf sie auf den Pappteller. „Sie haben ja keine Ahnung.“ Sein spöttisches Lächeln hatte was. „Also: Sie machen mich neugierig. An wen erinnere ich Sie?“
„Jetzt weiß ich es“, rief Emma aus, „an Rúrik Gíslason.“
„Wer soll das sein?“ Er wirkte nicht gerade glücklich. „Eine Comic-Figur?“
„Ein isländischer Fußballer.“
„Sie interessieren sich für Fußball?“ Wieder dieses spöttische Lächeln!
„So ähnlich“, räumte sie verlegen ein. „Manche Spieler fallen einem regelrecht ins Auge und entgegen Brandons Behauptung nehme ich dann und wann durchaus eine Modezeitschrift in die Hand.“ Nur die Erwähnung seines Namens stieß ihr das Cola sauer auf.
„Sie erinnern mich übrigens auch an jemand“, behauptete der Unbekannte.
„Lassen Sie mich raten“, tat es ihm Emma nach und versuchte ein ähnliches Gesicht zu machen wie er zuvor. Allerdings bedurfte es wenig Mühe, weil sie an Brandons Vorwürfe denken musste. War sie tatsächlich so unsexy? „An die Filmfigur Bridget Jones?“
Sein Lachen hatte etwas Ansteckendes. „Weit daneben. Ich würde sagen …“ Er studierte sie so intensiv, dass ihr heiß wurde. Das war bestimmt die nächste Nachwirkung vom Sekt! „Sandra Bullock. Dieselben rehbraunen Augen, eine ähnliche Haarfarbe und Sie haben dieses verschmitzte Etwas.“
„Damit kann ich gut leben“, stellte Emma erfreut fest. Ob dieser Mann ehrlich war oder nicht, sein Kompliment tat gut. Ebenso wie das anschließende Schlendern durch die Straßen. Sie sprachen kein Wort. Trotzdem war es kein angespanntes Schweigen. Die Stille tat gut wie die frische Luft. Noch dazu waren kaum Menschen unterwegs, obwohl London niemals schlief.
„Möchten Sie eigentlich gar nicht wissen, wie ich heiße?“, fragte er plötzlich, als sie in die Regent Street einbogen und Richtung Piccadilly Circus spazierten.
„Nein“, entschied Emma. „Es ist nett mit Ihnen und scheinbar waren Sie zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ein Mann, der aus dem Nichts kam und bald dorthin zurück verschwindet. Ich schätze, wir werden uns nicht wiedersehen.“
„Stimmt. In einigen Stunden breche ich auf.“
Erneut schwiegen sie. Betrachteten die üppige Weihnachtsbeleuchtung, die den Schnee zum Glänzen brachte. Wie eine Sahnehaube lag er auf den Bäumen, Bänken und Zäunen, während der Wind über die Dächer fuhr. Emma hatte das Gefühl, als wären Tage vergangen und nicht wenige Stunden, in denen sich ihre Welt völlig verändert hatte. Als hätte jemand ein T-Shirt umgestülpt und nun musste sie zusehen, wie sie es am besten tragen konnte.
„Haben Sie jemals einer Frau wehgetan?“, erkundigte sich Emma und nagte an ihrer Unterlippe. „Sind Sie verheiratet?“
„Das war ich und ja, es gibt viele, denen ich übel mitgespielt habe.“ Sie ahnte, dass er trotz seiner Aussage an eine bestimmte Frau dachte. „Annie war so eine. Sie ist toll und ich hatte sie gern. Aber das genügt eben nicht auf Dauer.“ Sofort kam ihr Brandon in den Sinn. Nein, gernhaben genügte tatsächlich nicht. „Meine Eltern führten eine ziemlich miese Ehe. Dad hatte ständig andere Frauen, was er gut zu vertuschen wusste. Niemand in unserem kleinen Ort weiß davon und Vater redete mir ständig ein, dass ich lieber mein Leben genießen soll, statt mich zu binden.“ Er seufzte. „Ich ließ es ziemlich krachen, bis ich Annie wiedertraf. Wir wurden ein Paar, doch ich merkte schnell, dass ich für Kompromisse nicht bereit war. Trotz unserer Beziehung zog ich mein Ding durch. Eigentlich ein Indiz dafür, dass es nicht die wahre Liebe ist. Dann begegnete ich Trish und betrog Annie mit ihr.“ Emma empfand sofort Mitleid mit dieser Annie. „Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass ich wirklich in Trish verschossen war. Dennoch machte ich Annie an meinem Junggesellenabend an, weil ich … ach, lassen wir das. Jedenfalls habe ich Trish geheiratet und kurz danach ließen wir uns wieder scheiden. In den folgenden Monaten stürzte ich mich in zahllose Abenteuer und habe sogar bei der Arbeit getrunken. Bis ich vor kurzem eine Abmahnung erhielt. Jemand hat mich angeschwärzt. Anfangs war ich ziemlich sauer. Mittlerweile bin ich froh darüber, weil es wie ein Weckruf war.“
„Wieso ist Ihre Ehe in die Brüche gegangen? Haben Sie Trish ebenfalls betrogen?“
„Ich war nicht immer ein Schwein. Obwohl ich alles dafür getan habe, um dafür gehalten zu werden“, blockte er ihre Frage ab und blieb stehen. Emma tat es ebenso.
Es war seltsam, zu einem beinahe Wildfremden aufzublicken. Mit ihm in der Kälte zu stehen, die nicht spürbar war. In seine Augen zu schauen, die etwas Geheimnisvolles, aber auch etwas Trauriges hatten. Die Gesichtszüge im sanften Licht des Schaufensters zu erkunden, die das Leben gezeichnet hatte. Seinen Atem auf der Haut zu fühlen und ihm in diesem Augenblick näher zu sein als irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt.
Auf einmal berührte seine Hand ihr Kinn. Emma verlor sich in den unergründlichen Augen. Seine Lippen näherten sich und dann küsste er sie. Sanft und zärtlich. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Doch ehe sie reagieren konnte, ließ er sie los und winkte ein Taxi heran, das sofort an den Straßenrand rollte. Zuvorkommend öffnete der Unbekannte die Tür.
„Leben Sie wohl“, raunte er. Mit klopfendem Herzen und leisem Bedauern in sich blickte Emma zu ihm hoch, bevor sie sich ins Taxi setzte. Das Leder knirschte, als sie sich zurücklehnte. „Danke für diesen unvergesslichen Abend, Sherlock.“ Er lächelte.
Die Tür schlug zu. Das Taxi fuhr an. Emma drehte sich um und schaute durch die Heckscheibe. Unbeweglich stand der Mann inmitten des Schneetreibens und sie glaubte, seinen Blick auf sich zu spüren. Kurz erwog sie, den Chauffeur anhalten zu lassen und den Unbekannten nach seinem Namen zu fragen. In der nächsten Sekunde schalt sie sich eine Närrin. Er hatte sie getröstet. Ihr geholfen und sie aus der Laune eines Augenblickes heraus geküsst. Auf den Trümmern ihres Lebens. Die galt es zu beseitigen, statt irgendeinem Zauber hinterherzulaufen, den dieser Abend jedoch zweifelsohne gehabt hatte.
„Wie romantisch!“, rief Linda aus, die klirrend ihre Kaffeetasse auf den Unterteller zurückstellte. „Und du hast wirklich keine Ahnung, wer der Typ ist?“
Emma zuckte mit den Achseln. „Nein. Aber dieser Mann ist im Augenblick meine geringste Sorge“, schwindelte sie, obwohl sie ständig an die vergangenen Stunden denken musste. Mitsamt der Frage, ob das tatsächlich passiert war. „Immerhin steht mir eine Scheidung bevor und wenn ich Brandon richtig verstanden habe, gibt es einen Rosenkrieg.“
„Na ja, wie ein Häufchen Elend wirkst du nicht auf mich.“ Linda schob den kleinen runden Spiegel zu sich und griff nach dem Lipgloss neben der Blumenvase mit den Plastikrosen, die ihr Grant vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die roten Blüten waren vom Sonnenlicht ausgeblichen und staubig wie der Rest ihrer Wohnung. Lindas Perfektion hörte nicht nur am Reißverschluss ihrer Tasche auf, sondern auch an der Türschwelle. Sie war keine geborene Hausfrau und schenkte diesem Teil ihres Lebens nur wenig Aufmerksamkeit. Ganz nach dem Credo: Es wäre schade um die vergeudete Zeit. „Du wirst es schon schaffen.“
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