Bislang war dies immer vor dem Hintergrund von Verfehlungen der Fall gewesen ...
Selbst wenn Ambrosius mich bisher persönlich schätzte - in der kommenden Zeit würde sich unser Verhältnis nachhaltig ändern.
Die Gedanken jagten sich förmlich in meinem Kopf.
Was sollte ich nur machen?
Wissen - allein darum ging es.
Ein Leben als Krieger? Unvorstellbar.
Ein unbekannter Vater hatte mein Leben geplant? Das konnte ich nicht akzeptieren!
Nur Gott hatte das Recht dazu, solche Entscheidungen zu treffen!
Und Weggang?
Wohin? Ich hatte nichts und niemanden. Und ein Leben als Bettler sollte es nicht geben, genauso wenig wie als Übersetzer für einen der reichen Araber, die immer wieder auf der Insel auftauchten. Sie gierten danach, alte lateinische Bücher in ihre Sprache übertragen zu bekommen.
Irgendwann wurde es Nacht, doch es hatte sich keine Lösung aufgetan.
Ich brachte den Hund zurück und ging anschließend in meine Zelle.
Karges Mondlicht erhellte sie nur mühsam durch ein kleines Fenster. Beim Hinlegen fiel mein Blick auf einen Zettel, der auf der wollenen Decke lag. Dort hatte ich weder etwas vergessen noch hingelegt!
Das Kerzenlicht zeigte eine herausgerissene Seite aus einer Bibel. Auf den Rand hatte jemand mit roter Tinte einige Worte geschrieben, als sollten sie unbedingt auffallen.
„Euer Vater lebt!“
Wie erstarrt stand ich da. Was sollte das?
Ein übler Scherz?
Mein Vater war doch nach Aussage des Ritters gefallen!
Bei dem Gespräch mit Abt und Templer auch über diesen unbekannten Mann hatte es keine Zuhörer gegeben. Zudem war auf Stillschweigen und absolute Geheimhaltung Wert gelegt worden.
Und nun dies!
Ich war beliebt bei den Brüdern, hatte keine Feinde. Wer hatte so etwas geschrieben - in dem Bewusstsein, mich bis in das Mark zu treffen?
Seit Broderik, der Templer, in mein Leben getreten war, schien kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben!
Der Ritter hatte die Abtei nach unserem Gespräch verlassen - von ihm konnte die Nachricht nicht kommen!
Wer also wollte mich innerlich wie äußerlich zerstören?
Warum?
Das Grübeln dauerte die ganze Nacht, aber ein Ergebnis gab es nicht.
Mit dem morgendlichen Vogelgezwitscher dämmerte ich ein, um dann direkt wieder von der Glocke zum Morgengebet geweckt zu werden.
Der Messe folgte eine Zeit des Schweigens, danach die Verteilung der Aufgaben für den Tag, anschließend die tägliche Arbeit. Ambrosius nahm mich von allem aus. So etwas hatte es noch nie gegeben!
Anstatt Gemüse zu putzen, die Räume zu reinigen, die Kapelle zu schmücken oder die Pferde zu pflegen, sollte ich in den Lesesaal gehen und mich in Studien der arabischen Sprache üben. Weshalb? Wofür? Und auch - wieso auf einmal um diese Tageszeit?
Der Lesesaal mit seinen Studien war dem Nachmittag vorbehalten!
Anscheinend blieb in meinem Leben plötzlich überhaupt nichts mehr so, wie es war ...
Also führte der Weg in das Nachbargebäude, in dem sich die Bibliothek befand. Mürrisch und ohne Eile suchte ich einige entsprechende Codizes heraus, immer in dem Bewusstsein, der Abt würde sie kontrollieren. Durch die großen, einfach verglasten Fenster konnte man die anderen im Garten arbeiten sehen.
Welch ein Genuss - jetzt in der Morgensonne zu stehen, zu arbeiten, zu reden und sich auf den Lesesaal am Nachmittag zu freuen!
Und ich saß hier und wollte nichts Arabisches lesen. In dieser Woche standen eigentlich sarmatische Schriften an. Außerdem hatte sich immer noch keine Lösung für das Problem meines Lebens aufgetan!
Erst viel später, kurz vor dem Mittagessen, rief mich eine bekannte Stimme an.
Ambrosius erkundigte sich nach Fortschritten. Nicht bei den Studien, sondern bezüglich einer Entscheidung!
Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Nicht einmal einen Tag nach dem Gespräch mit dem Ritter schien er mich loswerden zu wollen. Sollte die Sympathie der letzten Jahre nur gespielt gewesen sein? Hatte man mich nur als Kostgänger gesehen, für den nun kein Geld mehr gezahlt wurde?
Aufgeregt bat ich mir eine weitere Bedenkzeit aus, obwohl für ihn die Wahl von anderer Seite aus schon getroffen zu sein schien.
Ambrosius ging, und die schweren Gedanken setzten sich fort.
Mein 22. Geburtstag lag einen Tag zurück. Wofür war er das Schlüsselerlebnis?
Welche Kräfte waren hier am Werk?
Mein Kopf sank langsam müde vornüber auf die Brust. Die lange Nacht forderte ihren Tribut. Dann läutete die Glocke mehrfach im bekannten Takt. Ich fuhr hoch.
Vesper! Das Abendgebet!
Scheinbar hatte ich auch die Non, das Nachmittagsgebet, und das vorherige Mittagessen verschlafen!
Trotzdem war niemand gekommen, mich abzuholen. Die Mönche hatten gegen die Regel verstoßen, das Essen nur gemeinsam mit allen Angehörigen von Fakturei und Abtei einzunehmen! So etwas war noch nie passiert!
Warum jetzt?
Schlaftrunken riss ich die Augen auf und versuchte wachzuwerden, auch wenn es nicht richtig gelang. Nur schnell in den Speisesaal!
Fast schwerfällig sprang ich vom Stuhl auf, drehte mich um - und sackte zusammen. Ein unbeschreiblicher Schmerz zog sich durch den Körper, von den Zehen bis zu den Haarwurzeln. Blut lief über die an den Oberkörper gepressten Finger. Gleichzeitig brach aus jeder einzelnen Pore kalter Schweiß hervor.
Jemand hatte mir ein Messer tief in die Brust gestoßen!
Ein großes Loch tat sich unter den schwankenden Füssen im Boden auf.
Mir direkt gegenüber stand ein Mann mittleren Alters. Nur noch mühsam ließen sich schmierige Haare und ein aufgedunsenes Gesicht wie bei einem Trinker erkennen. Krähenfüße unter den Augen und schuppige Haut machten ihn nicht unbedingt ansehnlicher. Ich versuchte mich mit einer Hand krampfhaft an seinem staubigen Gewand aus grober Wolle festzuhalten, um nicht umzufallen.
Vergeblich.
Kein Muskel zuckte, während der Eindringling mich ansah. Sein Blick war kalt und völlig unberührt von dem, was hier gerade passierte. Kraftvoll drehte er das Messer in meiner Brust, um seines Erfolges sicher zu sein. Mir kam es vor, als hörte man dabei ein lautes Knirschen. Dabei sah ich die Tätowierungen auf dem Unterarm.
Ein gedungener Mörder, wie sie für wenig Geld auf dem Markt zu bekommen waren!
Jedes Kind wusste von ihnen.
Aber wieso ich? Warum wollte er mich umbringen?
Es musste ein Irrtum vorliegen. Ich war Klosterschüler - ohne Geld oder Feinde!
Wie war er überhaupt in den Lesesaal gekommen?
Meine Gedanken kreisten pausenlos, während das Pochen in den Ohren unerträglich wurde. Gleichzeitig stieg eine unerklärliche Hitzewelle auf. Kurz darauf sackten beide Beine weg. Im Fallen hielt ich mich an der Hand mit dem Messer fest und wurde ohnmächtig.
Als das Bewusstsein zurückkehrte, gab es keinen Körper mehr - nur noch Schmerzen!
Einen Moment später füllte ein Männergesicht meinen gesamten Blick aus.
Broderik.
War er nicht abgereist?
Mir fiel keine Antwort auf die Frage ein. Währenddessen drang Stimmengewirr undeutlich herüber. Es war zu leise, um etwas verstehen zu können.
Ich schien zu liegen und fühlte mich unerklärlich matt. Dann kam die Erinnerung zurück.
Der Lesesaal!
Aufgeregt wollte ich mich aufrichten. Meine Brust schien dabei zu zerreißen. Mit einem gurgelnden Stöhnen blieb es bei dem Versuch. Sobald sich der Schwindel wieder gelegt hatte, kreisten zumindest die Augen.
Die Umgebung wirkte fremd - weder der Raum noch seine Einrichtung kamen mir bekannt vor. Ein bekannter Geruch stieg unangenehm deutlich hoch.
Als der Templer merkte, dass der Verletzte zu sich gekommen war, überschüttete er mich mit Fragen. Antworten gab es nur spärlich, denn das Sprechen fiel unendlich schwer. Die Worte kamen nur undeutlich gebrabbelt heraus.
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