Ich musste wohl noch sehr klein sein, denn die Menschen sahen wie Riesen auf mich herab.
Nach dem Stehen begann auch das Laufen ohne Hilfe langsam zur Gewohnheit zu werden.
Sobald die Gewöhnung an eine Familie eingetreten war, holte man mich wieder ab.
Alles ging sehr schnell.
Manchmal wurde ich sogar nachts aus dem Bett gezogen und musste zu dem großen Mann auf ein Pferd klettern. Am Ende des Rittes wartete wieder eine neue Frau, und mein Beschützer verschwand wieder.
Ich fing an, mich innerlich an niemanden mehr zu binden, weil die nächste Veränderung ohnehin bald wieder bevorstehen würde.
Unzählige Male wurden diese Gedanken nicht enttäuscht ...
Über den vielen Ortswechseln wurde ich fast unbemerkt langsam größer.
Längst war aus dem unbeholfenen Gehen ein schnelles Rennen geworden, aber trotzdem blieb die Einsamkeit ein steter Begleiter. Das Spielen fand nur unter Beobachtung statt, und oft sollte ich mich dabei verstecken. Es war mir bald verhasst.
Immer, wenn Fremde erschienen, wurde das Geübte verlangt.
Es blieb mir unverständlich ...
Irgendwann, am Ende einer weiteren Reise, kamen wir nachts in ein Kloster. Nichts Ungewöhnliches - schon öfter war dies passiert. Erneut nahm man mich fast liebevoll in Empfang. Diesmal wartete allerdings keine Frau, sondern wieder ein Mönch.
Man wies mir einen eigenen Raum zu. Obwohl karg eingerichtet, fand sich trotzdem Holzspielzeug. Das war mehr als in den meisten Familien zuvor.
Ich konnte mich überall frei bewegen, aber an der Klostermauer endete die neue Welt.
Weitere Reisen gab es nicht mehr. Irgendwann wurde dieser Ort mein Zuhause, obwohl nie jemand da war, wenn ich nicht einschlafen konnte oder etwas erzählen wollte.
Bald waren täglich kleine Aufgaben zu erledigen. Ein Mönch brachte mir zusätzlich alles Mögliche bei - Getreidesorten, Vogelarten, Märchen, Einzelheiten über das Klosterleben und viele Geschichten aus der Bibel.
Später, des Lesens und Schreibens mächtig, half ich in der Bibliothek. Dabei gab es immer wieder genug Zeit, sich die Folianten und Codizes genauer anzusehen, bevor sie wieder in den Regalen verschwanden.
Ich liebte es. Oft fanden mich die Mönche noch spät abends in der Bibliothek, obwohl alle Aufgaben längst erfüllt waren.
Die Zeit hier schien stillzustehen.
Eines Nachts wurde ich wie früher aus dem Bett geholt und musste sofort meine Sachen packen.
Diesmal wartete kein Pferd auf uns. Stattdessen lief der Mann von früher mit mir immer tiefer in den nahegelegenen Wald hinein.
Irgendwann kamen wir zur Küste und später zu einer abgelegenen Stelle, wo ein Boot wartete. Schnell brachte es uns hinaus auf das Meer.
Erst im Morgengrauen gingen wir irgendwo an Land. Es folgte ein langer Fußmarsch, wieder zu einem kleinen Kloster. Dort übergab mich der freundliche Mann einem wartenden Mönch. Kurz darauf schloss sich die Klosterpforte von innen. Nach dem Zuweisen einer Zelle war ich allein.
Wieder einmal ...
Nach einigen Tagen der Eingewöhnung bezog man mich komplett ins allgemeine Leben ein.
Nun standen mehrfach täglich Gottesdienste an, und die Aufgaben wurden ausgedehnt. Wie ein Knecht musste ich selbst in der Küche arbeiten. Regelmäßig gehörten Gemüseputzen für das nächste Mittagessen der Mönche wie auch das Wischen des Bodens auf Knien dazu. Die Mönche schienen bei den zu verrichtenden Arbeiten vergessen zu haben, dass ein Knabe vor ihnen stand.
Gleichzeitig hielt man mich jedoch auch regelmäßig zum Lesen an.
Es fiel mir schwer, die Anforderungen zu erfüllen. Kurz zuvor noch mit den Freiheiten eines Kindes ausgestattet, galten nun andere, unbekannte Maßstäbe. Regelmäßig schlief ich vor Übermüdung in den Gottesdiensten ein. Zuviel harte Arbeit, dagegen kaum noch Momente der Ruhe ...
Nach einiger Zeit des Einlebens schaffte ich mein Tagespensum leichter als bisher.
Auch weiterhin nahm niemand Rücksicht.
Irgendwann befasste man sich eingehender mit dem Neuankömmling. Es folgte eine intensive Ausbildung in jedem Bereich der klösterlichen Welt. Der Abt legte auf jede Kleinigkeit Wert. Endlich nahmen die harten körperlichen Arbeiten ab. Stattdessen achteten die Mönche auf unentwegte Zuführung von Wissen.
Ich begann sehr schnell, es zu genießen.
Dieses Kloster lag nicht versteckter als andere meiner bisherigen Aufenthaltsorte, wenn auch deutlich abgeschiedener.
Man hielt mich zwar nicht direkt von der Welt jenseits der Mauern fern, achtete aber darauf, dass ich nicht mit fremden Menschen zusammenkam. Auch weiterhin war freie Bewegung nur innerhalb der Anlage erlaubt.
Scheinbar war mein Aufenthalt hier auf lange Zeit ausgelegt. Eigentlich deuteten nur viele Kleinigkeiten daraufhin, aber in der Summe waren sie bedeutsam.
Die kommenden Monate und Jahre gaben mir Recht.
Es folgte nicht eine einzige Flucht mehr. Die Mönche versuchten, von Anfang an unentwegt ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln - als ob mein Bestimmungsort erreicht wäre.
Vielleicht würde ich ja für immer hier bleiben ...
Trotzdem räumte ich dieser Hoffnung bewusst wenig Raum ein.
Wer wusste, was noch kommen würde ...
Ich war bei den Zisterziensern gestrandet. Sie unterhielten eine kleine Abtei auf Malta, wie ein Bollwerk gegen die Zeit. Den Orden gab es sonst nirgendwo mehr auf der Insel, und umso enger war der Zusammenhalt. Man fand bei ihnen nicht die sonst in Klöstern übliche straffe Disziplin, die von einem harten Regelwerk unterstützt wurde. Dafür hielt ein freundschaftliches Miteinander in gesteckten Grenzen diese Großfamilie zusammen. Unüblich für den Orden, wie Ambrosius, der Abt, betonte, aber äußerst wirkungsvoll.
Der Glaube war hier nicht nur eine Hülle oder ein Vorwand.
Wärme prägte das Leben.
Mittlerweile war ich zwölf Jahre alt.
Schier unendliches Lernen beherrschte die folgenden Jahre.
Naturwissenschaften, Sprachen, Landwirtschaft, Ethik und Moral - alle Bereiche des weltlichen und geistigen Lebens waren den Mönchen bei der Ausbildung wichtig.
Bibliotheken übten auch weiterhin eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus, aber auch eine einzige selbstgezogene Möhre bewirkte ehrliche Freude.
Die Mönche kümmerten sich ausnahmslos rührend um mich. Überall fand ich eine Schulter zum Anlehnen oder ein offenes Ohr, wenn es nötig war. Man steckte mir Kleinigkeiten zu und nahm mir Arbeiten ab, ohne dass der Abt davon erfuhr.
Sie kümmerten sich wie eine große Familie um mich.
Der Glaube bestimmte mein Dasein. Auch er ersetzte an vielen Stellen die fehlende Familie. Ich ging über die Jahre hinweg regelrecht darin auf. Trotzdem fand sich nie ein Gespräch darüber, mich in den Orden aufzunehmen. Scheinbar interessierte niemanden hier ein solcher Gedanke. Manchmal dachte ich schon darüber nach, aber die Zeit des Lernens war zu schön und überdeckte alles wie von selbst.
Die Zeit verging.
Allmählich wich das kindliche Denken einem Prozess der Weiterentwicklung. Meine Welt war weiterhin heil und sonnendurchflutet. Die trüben Gedanken der frühen Kindheit tauchten nur noch selten auf, ansonsten verblassten sie gegenüber der Gegenwart mehr und mehr.
Es ging mir gut.
Mit 14 Jahren wurde ich ohne Widerstand der Mönche von zwei unbekannten Männern abgeholt und nach Frankreich gebracht.
Auf dem Weg dorthin erklärte man mir kurzerhand, ich würde nun bei den Templern zum Knappen ausgebildet.
Mit der Ankunft begann ein anderes Leben. Nicht nur wegen der bisher unbekannten Sprache fiel mir die Eingewöhnung unglaublich schwer.
Dies war nicht das Leben, das ich wollte!
Einem Ritter zugeteilt, lernte ich in den folgenden Jahren trotzdem den Umgang mit Waffen, andere Umgangsformen und eine bisher unbekannte Form Art des Gehorsams. Auch hier achtete man auf Abgeschiedenheit, und ich musste nie mit in einen Kampf ziehen.
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