Ralf Lützner
Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ralf Lützner Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Es ist ein Junge!
2. Wie eine Spur aufgenommen und wieder verloren wurde
3. Keine Gefangenen
4. Heimkehr
5. Das Abbrechen der Brücken
6. Die Wege kreuzen sich
7. Karawanen nach Osten
8. Exodus
9. Die Geschichte zweier Familien
10. Gute Nacht, mein Prinz
11. Lindenbrook & Söhne
12. Am Ende der Reise
13. Also sprach Ihre Majestät
Impressum neobooks
Unbarmherzig trieb der Reiter sein Pferd durch die Dunkelheit. Nur schemenhaft erkannte er die einsame, schlammige Straße vor sich, in dem schwachen Licht, das der Mond durch den verhangenen Nachthimmel zu schicken vermochte. Doch das veranlasste ihn nicht, sein Tempo zu verlangsamen.
Bereits in den frühen Morgenstunden war er von London aufgebrochen. Die letzte Rast lag schon Stunden zurück: Ein frisches Pferd an der Poststation, ein schnelles Bier in der Schenke, dazu ein paar hastige Bissen harten Brots und Dörrfleisch. Zu allem Überfluss hatte einsetzender Regen und ein böiger Wind Ross und Reiter bereits bis auf die Knochen durchnässt.
Aber der Mann beklagte sich nicht. Von seiner Lordschaft höchstpersönlich war er für diese Aufgabe ausgewählt worden. Eine Geste absoluten Vertrauens! Drei Tage lang wartete er daraufhin in einer Spelunke in Blackheath auf das Eintreffen des Kuriers. Nun war Eile geboten. Er tastete nach der ledernen Umhängetasche, die die versiegelte Botschaft enthielt. Von staatstragender Wichtigkeit sei deren prompte und diskrete Auslieferung, hatte seine Lordschaft mehrfach betont. Und er würde seinen Herrn nicht enttäuschen! Er würde für seine Dienste gut entlohnt werden.
Weiter peitschte er sein Pferd durch die verregnete Nacht.
Nach Norden.
Immer weiter nach Norden.
„Gütiger Gott, Sharingham! Wie konnte ich mich bloß darauf einlassen?“
Nervös schritt der kleine, untersetzte Mann in der geräumigen Bibliothek auf und ab. Obwohl es eine kühle Oktobernacht war, trieb ihm die Anspannung den Schweiß auf die Stirn. Er zog sich die graue Perücke vom Kopf und wischte mit einem seidenen Tüchlein über die fortschreitende Glatze, die darunter zum Vorschein kam.
„Das ist alles höchst unerfreulich.“
„Mein lieber Bromset, beruhigen Sie sich!“ erwiderte der andere. Er war größer, schlanker und jünger als sein Gegenüber. Eine Aura staatsmännischer Würde umgab ihn, während er sich scheinbar gelassen an den Sims des Kamins lehnte. „Es kann jetzt nicht mehr lange dauern ... und bis Eure werte Gemahlin und Eure Tochter aus ihrer Kur zurückkehren, wird nichts mehr daran erinnern, dass wir je hier gewesen sind! Vergessen Sie nicht, Bromset, wir dienen hier einem höheren Zweck!“
„Ihr Wort in Gottes Ohr, Sharingham“, seufzte dieser. „Ihr Wort in Gottes Ohr!“ Er tupfte mit dem Tüchlein über Kinn und Oberlippe. „Wenn die falschen Leute ... Gott, es ist stickig hier drinnen!“
Erneut wischte er sich über die Stirn.
„Findet Ihr?“ Demonstrativ wandte sich Sharingham vor den Kamin, um seine Hände an dem prasselnden Feuer zu wärmen. „Ich empfinde es eher als frisch. Aber, wie ich Ihnen schon hundertmal versichert habe, mein lieber Bromset, die Leute, die ich ausgewählt habe, sind mir treu ergeben ... genießen mein vollstes Vertrauen...“
„Jaja, so sagtet Ihr!“ schnaubte Bromset. Sein Blick wanderte zu der Standuhr, die monoton in einer Ecke tickte. Es war weit nach zwei Uhr morgens. „Diese Warterei macht mich noch wahnsinnig! Ich brauche einen Brandy! Was ist mit Ihnen, Sharingham?“
„Nein, danke. Ich werde heute Nacht noch einen klaren Kopf benötigen. Noch etwas Tee, vielleicht...“
„Cavendish!“
Der Butler, der sich bislang dezent im Hintergrund gehalten hatte, trat vor. „Sehr wohl, Mylord?“
„Noch etwas Tee für Lord Sharingham. Ich bediene mich schon selbst.“
„Sehr wohl, Mylord!“ Der Butler machte eine steife Verbeugung, sammelte das Teeservice auf, das auf einem Tischchen zwischen zwei Lehnstühlen stand, und verließ damit die Bibliothek.
Kaum war er in Richtung Küche verschwunden, klopfte es an einer Seitentür, die in einen Korridor zur oberen Etage führte. Ein Mann von Anfang Zwanzig streckte den Kopf hinein.
„Ah ... Abercombe!“ reagierte Sharingham prompt. „Irgendwelche Neuigkeiten?“
„Noch nicht, Euer Lordschaft“, antwortete der junge Mann. „Aber es scheint Komplikationen zu geben...“
„Ich verstehe“, gab Sharingham ruhig zurück. „Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.“
„Sehr wohl, Euer Lordschaft.“
„Auch das noch“, murmelte Bromset, der sich inzwischen ein großzügiges Glas Brandy eingeschenkt hatte.
„Es kommt, wie es kommt“, sinnierte Sharingham.
„Ich bewundere Eure Ruhe!“ sagte Bromset und leerte sein Glas in einem Zug.
„Halt! Wer reitet da zu solch unchristlicher Stunde?“ rief der Torwächter.
„Nachricht aus London!“ gab der Bote einsilbig zurück.
Der Torwächter hob seine Laterne, um den Reiter sehen zu können. „Wurde auch langsam Zeit!“ begann er daraufhin zu zetern. „Seit Tagen darf ich mir hier schon die Nächte um die Ohren schlagen...“
„Mach hin, Mann!“ knurrte der Bote ungeduldig.
„Jaja...“ Der Wächter stellte die Laterne auf dem Boden ab, schlug den Kragen seines Mantels hoch und zog sich den Hut tiefer ins Gesicht. Dann trat er aus dem Unterstand seiner kleinen Kabine hervor, hinaus in den strömenden Regen.
„Komm Junge, hilf mir mal!“
Ein verschlafen wirkender Halbwüchsiger eilte aus dem Haus. Gemeinsam zogen sie die schweren Flügel des schmiedeeisernen Tors auf.
„Immer dem Weg lang!“ ließ man den Reiter wissen, der sich bereits wieder in Bewegung gesetzt hatte.
„Mach Platz, Alter!“
„Da hast du’s, mein Sohn“, zischte der Wächter, während sie das Tor hinter dem Boten wieder schlossen. „Keine Manieren, diese Stadtmenschen...“
In gemächlichem Trab steuerte der Reiter sein Pferd über den Kiesweg des Parks. Auf beiden Seiten konnte er die düsteren Umrisse der Wirtschaftsgebäude ausmachen: Stallungen, Lagerhäuser, Unterkünfte des Personals. Alles war dunkel. Alles schlief. Ein Fuchs huschte vor ihm über den Weg; offenbar auf der Suche nach dem herrschaftlichen Geflügel. Durch die Äste der sich lichtenden Bäume sah er die Lampen am Eingang des Herrenhauses.
Er beschleunigte seinen Trab.
Vor den Säulen des Hauptportals stieg er ab und läutete die Glocke.
Cavendish, der Butler, öffnete die Tür.
Ohne sich zu erklären, zwängte der Bote sich hinein. Er ließ seine Blicke durch die große Eingangshalle schweifen. Sie war nicht beleuchtet. Allein der Schein der Kerze, die der Butler bei sich trug, ließ ein wenig von deren Pracht erahnen. Breite Marmorstufen führten in die obere Etage, wo noch Licht brannte. Der Bote glaubte, von dort leises Stöhnen und gedämpfte Schreie hören zu können.
Er erschauderte.
„Sir?“ wurde der Butler ungeduldig.
Der Bote kam wieder zu sich. „Ich bringe Nachricht aus London. Lord Sharingham erwartet mich hier.“
Im Licht seiner Kerze musterte Cavendish die von Wind und Wetter gebeutelte Gestalt des Reiters. Mit gerümpfter Nase musste er zur Kenntnis nehmen, wie dessen schlammige Stiefel und durchnässte Kleidung ihre Spuren auf dem frisch geputzten Fußboden hinterließen.
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