»So, eure Mutter sagte mir, dass es Probleme gibt.«
»Ja.« Lukas lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Wieso zum Teufel können wir nicht einzelne Zimmer haben?«
»Weil die Wohnung das nicht hergibt.«
»Und eine andere Wohnung mit einem Zimmer mehr können wir uns nicht leisten«, fügte meine Mutter hinzu, die sich fleißig Tee nachschenkte.
»Na, wunderbar. Damals hatten wir doch auch eigene Zimmer.«
»Ja, aber da waren wir auch nur zu viert.« Mein Vater blickte mich an.
»Oh, wunderbar.« Lukas schäumte vor Wut. »Und was schlägt der Familienrat vor? Zieht Kevin aus?«
»Nein, wir haben einen Vorschlag für euch beide.« Papa trank einen Schluck Tee.
»Ja, da es nun mal nicht anders geht, haben wir uns überlegt, dass wir feste Besuchertage abmachen. Das bedeutet, dass Kevin zweimal in der Woche, also von Montag bis Sonntag, Schlafbesuch haben darf. In der Zeit schläfst du hier im Wohnzimmer, Lukas.« Mama faltete die Hände ineinander.
»An den zwei Tagen werden wir es uns nach dem Abendessen im Schlafzimmer gemütlich machen.« Papa nahm sich ein Taschentuch, drehte sich um und nieste. »Entschuldigung, es kribbelte schon die ganze Zeit.
»Gesundheit«, sagten wir einheitlich.
»Danke. So, also, was haltet ihr davon?«
»Klingt gerecht.« Kevin und Lena tauschten einen Blick aus. »Hey, Luke, irgendwann wirst auch ein Mädchen finden und dann werde ich auch auf dich Rücksicht nehmen.« Kevin griff nach Lenas Hand.
Lukas überlegte. »Na, gut. Aber ich bestimme die Tage. Mittwoch und freitags.«
»Okay.«
»Super, einverstanden.« Meinem Vater stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, während Angela noch wie auf Kohlen saß.
»Ist noch etwas?«, fragte ich. Irgendetwas lag in der Luft. Ich spürte es in jeder Pore meines Körpers.
»Ja, Thomas, möchtest du?« Mama stand auf und holte aus der kleinen Kommode, die man noch neben den Fernsehertisch und der Fensterbank gequetscht hatte, einen großen Umschlag heraus.
»In Ordnung.« Er nahm den Umschlag entgegen und öffnete ihn. »Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, denn wir haben uns darüber vorher nie Gedanken gemacht.« Er tauschte einen Blick mit seiner Frau, die ihm ermutigend zunickte.
»Es geht um dich, Jordan.«
Ich erstarrte. Ein Schauer überfiel mich. Wenn er so anfing, konnte es nichts Gutes sein.
»Damals, als wir dich adoptiert hatten, wussten wir nichts über dein altes Leben.«
»Wir wussten nichts über deine leiblichen Eltern, nur dass du in verschiedenen Heimen warst, bevor wir dich zu uns genommen hatten«, verbesserte Angela ihren Mann und fasste ihn am Unterarm.
»Ja, genau. Wir dachten, dass deine Vergangenheit nie ein Thema in unserer Familie sein würde, denn wir lieben dich, du bist unsere Tochter.«
»Und das wirst du auch immer sein.« Mama seufzte.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Was redeten sie da? Ich verstand nur Bahnhof. Damit ich nicht vom Stuhl kippte, hielt ich mich krampfhaft am Sitz fest, so dass meine Handknöchel weiß hervortraten.
»Kommt doch mal zum Punkt. Jordan ist schon ganz weiß um die Nasenspitze«, bemerkte Kevin und deutete auf mich.
»Okay, entschuldige. Wir wussten zuerst nicht, ob wir dir das erzählen sollten, doch dann wurde uns bewusst, dass du vielleicht irgendwann mal etwas über deine leibliche Familie erfahren möchtest.«
»Papa, Mama, was ist denn nun?« Lukas nahm unserem Vater den Umschlag aus der Hand und öffnete ihn. Einige Formulare eingepackt in Klarsichtfolien rutschten aus dem Umschlag. Zwischen ihnen befand sich ein Foto. Ich beugte mich über den Tisch und nahm es an mich.
»Was ist das?« Ich runzelte die Stirn, als ich auf dem Foto ein kleines, in Eigelb gestrichenes Haus erkannte.
»Vor ein paar Wochen wurden wir von einer Erbermittlungsagentur angeschrieben, die uns mitteilten, dass dein leiblicher Großvater gestorben sei.« Papa holte aus dem Briefumschlag einen weiteren kleineren Umschlag, den er mir gab. »Erst dachten wir, es sei ein geschmackloser Scherz, denn wir hatten dich damals anonym adoptiert.«
»Doch nachdem wir mit der Agentur telefoniert hatten, versprach eine Mitarbeiterin uns, weitere Angaben über das Erbe zu schicken.« Mama nahm das zweite Anschreiben.
»Hier, durch die Recherchen der Agentur wurde auch ein Stammbaum erstellt, der dich vielleicht interessiert.«
Brian Jameson --------Mary-Ann Jameson
(1932--2012) (1932--2000)
I I
I-------------------------------I
I
I
Sue-Ann Jameson -----------?
(19570--1996) I
I I
I------------------------- I
I
I
Jordan Vogel (Jameson)
(25.11.1995-- )
»Meine leibliche Mutter ist tot.« Ich spürte, wie ein Kloß in meinem Hals anschwoll und ich kaum noch Luft bekam. Obwohl ich wusste, dass ich adoptiert war, konnte ich meine jetzigen Gefühle kaum beschreiben. Ich fühlte mich, als stünde ich vor einem übergroßen Staubsauger, der anfing jegliches Leben aus mir zu saugen.
»Darf ich das Bild mal haben?«, fragte Lena.
Ich war wie erstarrt, so dass ich es einfach auf den Tisch fallen ließ. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Bitte schaut mich doch nicht so an, wollte ich sagen, doch der Kloß in meinem Hals hinderte mich daran.
»Dein Vater ist unbekannt.«
Das weiß ich auch, schrie meine innere Stimme.
Meine Mama stand auf und nahm mich in den Arm. »Es tut mir leid. Ich wollte, ich hätte bessere Neuigkeiten für dich.«
Ich schluchzte wegen Menschen, die ich nicht kannte.
»Wir wussten nicht, ob wir es dir überhaupt erzählen sollten, doch hast du ein Recht darauf, es zu erfahren.« Papa schenkte sich Tee nach, stand danach auf und brühte in der Küche neuen Tee auf. Danach kam er mit einer vollen Kanne und einem Paket Taschentücher zurück.
Kevin und Lukas hatten es sich bereits auf ihren Stühlen bequem gemacht. Sie sahen besorgt aus, wussten nichts zu sagen. Vielleicht war es auch besser so, denn was konnte man in so einer Situation schon entsprechendes sagen?
»Hier ist deine Geburtsurkunde. Die Agentur arbeitet mit Anwälten vor Ort zusammen. Dort können wir einen Termin abmachen, die uns dann alles genau erklären.«
Ich nahm ein Taschentuch und tupfte mir die Wangen ab. Danach warf ich einen Blick auf die Urkunde.
»Ich bin Amerikanerin«, murmelte ich. Anhand meines dunklen Teints wusste ich mit Sicherheit, dass ich aus dem Ausland nach Deutschland kam, doch dass ich in Amerika, besser gesagt in Oklahoma geboren wurde, hatte ich nicht erwartet.
»Ja.«
»Also besitze ich ein Haus in Amerika?« Ich räusperte mich einige Male, damit der Kloß in meinem Hals verschwand. Trotzdem zitterten meine Knie und die Angst–oder war es Neugierde? , hing mir im Nacken.
Kansas, Juli 1868
»Sadie, warte auf mich!«, rief Rachel und sprang von ihrem Pferd ab.
»Komm schon, es ist herrlich.« Sadie sprang in ihrem Unterhemd ins Wasser. Rachel dagegen streifte sich vorsichtig den Rock ab und watete wie ein langbeiniger Vogel in den glasklaren Fluss.
»Warte! Ich bin noch nicht so weit.«
»Ist es nicht traumhaft?« Sadie schlug ein paar Wellen und spritzte Rachel nass.
»Ah, Hilfe.« Rachel hob die Arme, als ob sie das vor dem Wasser schützen könnte. Sadie lächelte.
»Warum hast du nicht auf mich gewartet? Du weißt doch, dass Peggy nicht so schnell laufen kann.«
»Ich konnte einfach nicht widerstehen.«
»Denkst du, jemand ist uns gefolgt?«
»Ich denke nicht. Sonst hätten wir es sicher bemerkt. Hab keine Angst, es wird alles gut gehen. Wir schwimmen doch nur.«
»Weiß dein Vater, dass wir hier sind?« Rachel blickte sich ängstlich um.
»Nein, er ist nicht daheim. Ich habe meiner Mutter eine Notiz hinterlassen, dass wir einen längeren Ausritt unternehmen.« Sadie schwamm auf Rachel zu. »Wovor hast du solche Angst?«
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