Raskovnik ist ein merkwürdiger Mitmensch. Er passt so gar nicht ins Amt. Offenbar ist er jedoch genauso hier gestrandet wie ich. Sein Vater soll ein hohes Tier bei der Uno gewesen sein. Das war, bevor die Eurasische Union zwischen Russland und China, Tuanti Sojus, kurz TUS, die militärische und wirtschaftliche Schwäche der USA nach deren strategischer Niederlage im Nahen Osten ausnutzte und die Hebel der Macht an sich riss. Zurück blieb eine ausgebombte, radioaktiv verseuchte und unbewohnbare vorderasiatische Region, mit der wirklich niemand mehr etwas anfangen kann und eine durch innere Konflikte auseinanderfallende Rest-USA, die Western Union, die im Weltgeschehen praktisch bedeutungslos geworden ist.
In diesem Verlauf wurde die UNO als nutzlos und zu kostspielig aufgelöst. Raskovnik's Vater floh offensichtlich in die TUS, wo er jedoch keine wesentliche Funktion mehr innehatte und sein Sohn, Vladic Raskovnik, versumpfte hier im Amt ohne Aussicht auf eine nennenswerte Karriere. Dennoch hatte er bei der besagten Abteilung für Gefährdung und Sicherheit eine unbedeutende, jedoch gesicherte Tätigkeit als Dolmetscher erstreiten können, auch wenn er unter ihrer Leitung nicht ganz glücklich zu sein schien.
Er wirkt ein wenig phlegmatisch, trotz des Stiernackens und seines fast quadratischen Körperbaus, was einem Ringer mehr entspräche als einem Sesselpfurzer. Allein die senkrechte Falte über seiner Nasenwurzel und sein verschlossenes, wortkarges Auftreten lassen den geschulten Psychiater die mühsam beherrschte Wut ahnen, die diese Seele peinigen muss. Dennoch, Raskovnik sprach gleich von Anfang an eine Seite in mir an, die ihm meine Zuneigung sicherte. Ihn traf ich häufiger in der Cafeteria. Auch wenn es nie zu einem tiefer gehenden Gespräch kam, so plingte er mich des Öfteren an, nur um mir ein paar belanglose Worte zu simsen.
Hinzu kam, dass auch Raskovnik als Mitarbeiter der Sicherheit ei. »Grauer« ist und dass er mir gegenüber im Laufe der Monate seinen Klarnamen erwähnte, was einen eklatanten Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen darstellt, zeigte mir, dass unsere Sympathien wechselseitig sein müssen. Kurz und gut, ich freute mich nach dem Gespräch mit Eschner vielleicht ein paar Hintergrundinformationen von ihm zu erhalten. Umso mehr wunderte es mich, dass er sich, wie ich mich erinnere, nur auf wenige Sätze beschränkte, nachdem ich ihm kurz die Zusammenhänge erläutert hatte.
»Levi, sei auf der Hut vor Eschner! Da scheint eine riesige Sauerei im Amt zu laufen. Ich versuche heraus zu bekommen, woher der Wind weht. Ich melde mich bei dir!« Damit verließ er die Cafeteria eilig, ohne sich noch einmal nach mir umzuschauen.
Ich verbrachte den Rest des Tages vergeblich damit, meinen Bearbeitungsrückstand bezüglich der offenen Fälle zu verringern. Schließlich gab ich es trotz blinkender Warnhinweise wegen der Bearbeitungsdauer längst überfälliger Akten und tiefrot im Minus verweilender PC- Zeiten auf und beschloss, für heute Schluss zu machen, zumal auch keine Termine zur persönlichen Begutachtung mehr eingetragen waren. Ich bestellte per App ein AuTaX, eine automatische Fahrkabine, die die Funktion früherer Taxis übernommen hat, zum Amt.
Nachdem ich am Ausgangsterminal meinen Daumenabdruck und meine Iris gescannt hatte und ich erfolgreich ausgeloggt war, umfing mich feuchtkühler Nachmittagsnebel. Das AuTaX wartete bereits in der Haltebucht, so dass ich es mit dem Chip am Fingerring aktivieren konnte.
Ich zögerte kurz, wählte dann aber nicht meine Wohnadresse, sondern das italienische Bistro im benachbarten Park am See und legte mich entspannt zurück, als das AuTaX lautlos seine Fahrt aufnahm. An mir floss der dichte Personenverkehr mit viel Lärm und Gestank vorbei, während ich auf meiner AuTaX-Spur problemlos das Chaos neben mir zurückließ.
Ich fragte mich, wann es wohl gelingen werde, das vor 20 Jahren begonnene AVS-System endlich zu realisieren. AVS ist die Abkürzung für ‚Automatisiertes Verkehrssystem‘. Die Idee war ja nicht schlecht, alle innerstädtischen Fahrzeuge automatisiert und vor allem elektrisiert und auf Mietbasis zu betreiben. Keine lästige Parkplatzsuche mehr, keine verstopften Straßen, keine Staus. Leider stehen zwischen einer Idee und deren Verwirklichung die Dämonen der Verwaltung und auch des Besitzstanddenkens. Nicht nur die Autoindustrie zeigte sich eher schwerfällig, denn es sollten ja letztendlich keine privaten Pkw mehr auf die Straße, sondern statt dessen automatisierte Fahrkabinen, die auf Anforderung das gewünschte Fahrziel ansteuern. Auch die Verkehrsbehörde hatte massive Bedenken und torpedierte das Projekt, wo sie konnte. Übrig blieb vorerst nur die AuTaX-Fahrspur für automatisierte Taxikabinen, die in allen größeren Straßen realisiert worden war, immerhin. So fließt denn der führerlose Taxiverkehr weitgehend ungestört neben intelligenten Autos, die dennoch ständig irgendwelche Unfälle verursachen, und dem herkömmlichen Personenverkehr dahin, mit dem Ergebnis größtmöglicher Ineffektivität. Ich verzichte gerne auf den Besitz eines prestigeträchtigen Pkws, wenn ich so für die Überbrückung einer normalen Fahrstrecke nur ein Drittel der sonst üblichen Zeit benötige. Ganz zu schweigen von den öffentlichen Verkehrsmitteln, die inzwischen zu reinen Sicherheitsrisiken geworden sind und nur noch vo. »Mobb« benutzt werden.
Als der Verkehr ruhiger wurde, in dem Maße wie ich mich dem westlichen Außenbezirk näherte, entspannte sich auch mein strapaziertes Gehirn etwas. Für mich gibt es immer noch nichts Erfreulicheres als in dem kleinen Bistro am See zu sitzen und meine Gedanken schweifen zu lassen. Heute am frühen Nachmittag war hier noch nicht viel los. Ich checkte mittels Chip ein und ließ mir vom Getränke-Bot einen altertümliche. »Cafe Latte« servieren, setzte mich bequem in den Liegesessel vor die Monitorwand und schaltete das sommerliche Seeambiente dazu, denn der reale See lag derzeit im vorwinterlichen Graubraun. Sogleich erblühten die kahlen Bäume in virtueller Blätterpracht, zwitscherten längst ausgestorbene Vogelarten und wehte ein angenehmer, nach frischem Grün riechender Duft heran.
Was für ein Tag!
Mit einem Seufzer setzte ich das Kaffeeglas ab und schaute mich nach den wenigen Anwesenden um. Einige saßen mit ihren Virtual-Reality-Brillen ruhig in ihren Sesseln, andere machten es wie ich und benutzten nur den Monitor. Der in die Sessellehne eingebaute Screen zeigte nur eine Person an, die gesprächsbereit gewesen wäre, aber ich beachtete diesen Hinweis nicht, sondern schaltete mich auf offline.
In Gedanken ließ ich die heutigen Ereignisse Revue passieren. Alles, aber auch alles war bislang an diesem Tag merkwürdig. Ich schien plötzlich in höchst beunruhigende Ereignisse verwickelt, die eine unangenehme Vorahnung in mir hinterlassen hatten, ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe in mir erzeugten, ohne dass ich hätte sagen können, wovor ich Angst bekommen hätte. Einerseits drängte es mich, den Fall Montenièr lieber zurückzugeben, andererseits spürte ich auch eine zunehmende Neugierde, geradezu eine Abenteuerlust, mich in dies Unternehmen zu stürzen. Denn abenteuerlich ließ es sich ja bereits an. Ich musste mit jemandem sprechen, nur leider war in meinem Privatleben auf fast allen Kanälen Sendepause. Meine Frau Iris hatte sich in ihren Beruf verabschiedet und dort eine neue Beziehung angefangen. Meine Tochter Clarissa schied ebenfalls aus, ich wollte sie nicht in die Probleme der Erwachsenenwelt hineinziehen. Sie saß derzeit zwischen allen Stühlen und zog es vor, tagsüber lieber in Ruhe ihr Telestudium zu absolvieren. Ohnehin wusste sie derzeit nicht, ob sie Fisch oder Fleisch sein sollte, da sowohl die Pubertät als auch die Trennung von meiner Frau sie in eine schwierige Situation gebracht hatten. Sie meldete sich so gut wie überhaupt nicht mehr bei mir, und wenn, dann nur um Forderungen an mich zu stellen. Das schmerzte.
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