Die Kyperbekanntschaften waren erwiesenermaßen genauso fleischlos wie unverbindlich, mein psychiatrischer Supervisor schied momentan aus, weil... weil... Er schied eben aus. Ein Psychobot tat es auch manchmal, wenn man die Erwartungen, die man an ein Gespräch mit einem Computerprogramm hatte, nicht zu hoch ansetzte. Ich schaltete die Musik ein, Vivaldi, das beruhigte mich sonst immer. Aber anstatt ruhiger zu werden, wurde ich immer nervöser, bis ich mich schließlich dabei ertappte, dass ich wie ein Maschinengewehr mit den Fingern auf das Terminal tackerte. Auf dem Screen öffnete sich ein Fenster, in dem das Gesicht einer hübschen Frau zu sehen war, die freundlich nach meinem Befinden fragte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, lächelte sie ein professionelles Lächeln. Leider weiß man nie, ob das Gesicht eine Computersimulation ist oder ein reales Abbild. Ich tat so, als wäre mir das im Moment egal. »Nicht dass ich wüsste, danke.«
»Sind Sie mit irgendetwas unzufrieden, Sie wirken angespannt?«
»Oh, wirklich?«
»Ja, wir dachten, vielleicht gefällt Ihnen unsere Simulation nicht.«
»Oh, doch, doch vielen Dank, sie ist wirklich gut. Wirklich gut. Danke.«
»Wie schön, wenn wir irgendetwas tun können, um Ihren Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Für nur 24 Quian können wir Ihnen zum Beispiel eine Wohlfühl-App anbieten, entstressen auf höchstem Niveau, oder eine Harmoniser-XXL-App, neuestes Update, für nur 34 Quians. Gegebenenfalls könnten sie auch eine Libidoseur-Applikation erhalten, im günstigen Jahresabonnement um zehn Prozent günstiger, die erste Rate wird erst nach einer unverbindlichen Probewoche abgebucht.«
»Oh, danke, ich weiß nicht so genau.«
Die Dame lächelte ein entzückendes Lächeln. »Na, dann melden Sie sich einfach, wenn Sie möchten. Einen weiterhin schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.«
Ich ließ mich ermattet zurücksinken und blickte auf das abstrakte Bildschirmmuster, welches auf dem Screen erschienen war und sich im Rhythmus von Vivaldi. »Vier Jahreszeiten« bewegte. Seltsamerweise wurde ich etwas ruhiger. Ich blickte wie im Traum auf die bizarren Figuren, die sich bildeten und wieder vergingen. Auch wenn sie zufällig entstanden, so waren sie doch auch faszinierend. Obwohl es keine ausgeprägte geistige Tätigkeit verlangte, sie anzusehen, brachten sie doch einige Free-bits ein, die ich zu einem kleinen Prozentsatz in mein Arbeitskonto einbuchen konnte und die zum Teil auch mein Payback-Quians-Konto vermehrten. Nach einer geraumen Weile, es war inzwischen schon dunkel geworden, beschloss ich, doch in die häuslichen Gefilde zurückzukehren. Ich schüttelte ein paarmal den Kopf, um die Müdigkeit loszuwerden, rieb mir kräftig über das Gesicht und bestellte ein Abendessen im Nutri-Shop nach Hause, danach ein AuTaX zum Café. Ich blickte nochmals auf den Bildschirm, der nun zwei potentielle Gesprächspartner anzeigte. Einer Frau im Alter meiner Exfrau simste ich eine Offerte für später und checkte mich aus. 50 Quians von meinem Konto für den hiesigen Aufenthalt waren nicht wenig, aber seis drum. Das Ausgangsterminal fragte diesmal nicht nach einem Trinkgeld, der Service gehe aufs Haus. Seit das Bargeld nun endgültig abgeschafft worden war, hätte zwar nur ein Druck auf die Trinkgeldtaste genügt, andererseits wüsste ich nicht, wem ich es in einem automatisierten Café hätte zuweisen sollen. Ich war eben noch ein wenig altmodisch in dieser Beziehung.
Auf dem Rückweg flimmerten die Lichter der abendlichen Stadt an mir vorbei. Überdimensionale Leuchtreklamen lenkten die Aufmerksamkeit von den Niederungen dieser Welt in eine virtuelle bessere Welt. Die Kabine nahm einige merkwürdige Umwege, wahrscheinlich weil ihr auf der berechneten Route Hindernisse gemeldet worden waren. Tatsächlich stauten sich auf der Hauptstraße die individuell gesteuerten Autos bereits, was zu dieser Tageszeit in Richtung Zentrum normal war. Einige hatten sich sogar auf die Fahrspur der Automatischen gewagt, was üblicherweise mit empfindlichen Geldbußen oder monatelangem Führerscheinentzug geahndet wird.
Der Himmel über der Stadt, der rötlich leuchtend die von den Wolken reflektierten Lichter zurückwarf, zeigte noch einige schwache Versuche der untergegangenen Sonne, sich mit einem letzten fernen Leuchten zu verabschieden. Jetzt waren wieder mehr Menschen auf den Straßen, obwohl dies eigentlich die riskanteste Zeit ist, das Haus zu verlassen und sich in die Öffentlichkeit zu wagen. Über 80 Prozent aller Anschläge werden nach Einbruch der Dämmerung verübt! Wir passierten die gelblich blinkenden Lichter eines Polizeifahrzeuges und eines wartenden Sanitätswagens. Aber da kein olivgrünes Fahrzeug des Terrorschutzes zu sehen war, handelte es sich wohl nur um einen Unfall. Ich zählte die Anzahl der Videokameras, die auf dem Weg zu entdecken waren, in Abwandlung eines alten Kinderspieles, bei dem wir früher die Autos einer bestimmten Automarke abgezählt hatten.
Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. Ich frage mich, ob das Leben leichter geworden ist, seit die neue Regierungsform notwendig wurde? Ich weiß es nicht. Andererseits konnte es so auch nicht weitergehen. Die diversen demokratischen Parteien und Splitterparteien hatten sich im Parlament nicht zu einer konstruktiven Lösung zusammen tun können, sondern sich nur gegenseitig blockiert. Bis auf das gemeinsame Interesse, bei jeder Kleinigkeit die Steuern oder Staatsschulden zu erhöhen, gab es keine erkennbare Gemeinsamkeit. Jeder gut gemeinte Reformansatz wurde daher im Mahlwerk der eigennützigen Interessen bis zur Unkenntlichkeit deformiert, durch eine Heerschar eifriger Juristen und Bürokraten ins glatte Gegenteil gekehrt und schließlich als neue Zumutung der Bevölkerung auferlegt. Wen wundert es, wenn die Netzmedien überwiegend von Hassbotschaften dominiert wurden? Bis zur Wahlreform, die lediglich die Möglichkeit einer einzigen Regierungspartei zuließ, versank das Land im Chaos sich gegenseitig bekämpfender Parteien, revoltierender Bürgerinitiativen, litt unter Terroranschlägen verschiedenster Gruppierungen und Wirtschaftskriminalität, so dass es ein Glück war, als ein chinesischer Konzern seine Wirtschaftsmacht ausnutzend, das Ruder herumriss und die dortigen zentralistischen Strukturen auch bei uns einführte. Nicht, dass dies auf allgemeine Zustimmung gestoßen wäre, aber unleugbar ging es seitdem auch bei uns wieder langsam bergauf.
Aber war das Leben auch leichter geworden? Es war geordneter, das wohl. Die persönlichen Probleme blieben einem allerdings treu, wie ehedem.
Mein persönliches Problem bestand aus der Ereignislosigkeit, aus der ermüdenden Routine des Alltags und der privaten Perspektivlosigkeit. Meine Familie hatte wenigstens die Illusion der Notwendigkeit eines derartigen Zustandes erzeugt, aber seit der Trennung wurde dieses Gefühl zunehmend zur Last.
Vor dem Wohnblock, in dem ich mein neues Zuhause gefunden hatte, checkte ich mich aus der Kabine aus, die sofort zum nächsten Einsatz fuhr, sog die kühle Abendluft noch einmal kräftig ein und wollte mich gerade mittels Daumenabdrucks an der Pforte identifizieren, als mein Arm-Pad sich meldete. »Bitte Rückruf, dringend. Raskovnik«.
Ich stutzte. Raskovnik rief mich privat an? Woher hatte der meine Privatnummer? Soweit ich mich erinnern konnte, hatten wir nie unsere privaten Nummern ausgetauscht.
Ich tippte die Antworttaste. Der kleine Bildschirm flammte auf. »Entschuldige, dass ich dich in deiner Freizeit störe...«
»Woher hast du meine Nummer?«
»Ist die nicht im System hinterlegt...?«, fragte er zurück.
»Nicht das ich wüsste...«, überlegte ich.
»Hör mal, es gibt eine geringe Chance. Es wäre wichtig, dass u diese Montenièr schnellstmöglich aufsuchst. Sie weiß dir einiges zu berichten, was ich dir hier nicht am Pad mitteilen kann. Es gibt eine Chance, dass du sie heute Abend in der Nähe vom ,Fleur' antriffst. Ich habe ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass sie sich dort aufhält.«
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