Mirabella sah entsetzt zu ihrem Bruder. „Können wir mit einem zusammen reisen?“
„Keine Ahnung“, Nikolaos sah nervös zum Spalt, der sich plötzlich vergrößerte. Sie gab ihm ohne weiteres Überlegen ihre Kette. Ihre Eintrittskarte zum Olymp.
„Benutze sie, mach schnell, ich nehme das Armband.“
Sie konzentrierte sich auf den Mond und brachte ihn zum Glühen, dann drehte sie ihn dreimal. „Minerva!“
Verschwommen nahm sie wahr, wie ein Riesenkopf hinter dem Felsen erschien und Nikolaos das Jupiterhaar in der Hand hielt, dann befand sie sich in einem dunklen Raum, nur ihr kleiner Mond am Armband leuchtete. An der Wand machte Mirabella ein Bildnis der Minerva aus und atmete erleichtert aus. „Nick?“
Wenn alles gutgegangen war, dann sollte Nick nun im Nebenraum, in Jupiters Cella, materialisiert sein. „Mira?“
Gleichzeitig stürmten sie aus ihren Kammern und fanden sich im Säulengang wieder, jeder mit einem breiten Lächeln der Erleichterung auf dem Gesicht.
„Interessante Trainingsstunde…“, meinte Nikolaos grinsend.
„Du wolltest doch immer Abenteuer erleben!“, gab Mirabella zurück. „Das ist doch besser als Dixon Hill oder Blood Bowl?“
Nikolaos lachte. „Viel besser!“ Er wollte Mirabella den Anhänger aushändigen, als er in der Bewegung innehielt. „Darf ich mir den vielleicht ausborgen, bis meiner repariert ist? Ich bringe ihn so schnell wie möglich zu dir.“
Sie zögerte etwas. Ohne Jupiters Haar würde sie vielleicht den Olymp nicht betreten können, leichte Panik stieg in ihr hoch, dann nickte sie aber.
„Klar, ich habe ja noch das Armband, mit dem ich reisen kann.“
„Danke!“ er lächelte erleichtert. „Was machst du eigentlich an deinem Geburtstag?“, fiel ihm dann ein.
Mirabella wurde morgen fünfzehn. „Meine Eltern haben eine Überraschung für mich.“
Nikolaos nickte lächelnd. „Hast du jetzt noch Zeit? Wir könnten ein echt italienisches Eis essen.“
„Das wäre…“ In dem Moment stand Minerva vor ihnen. Sie hatte den Lehrplan für die Jugendlichen letztes Jahr gestaltet und die meisten Unterrichtseinheiten übernommen. Ihre menschliche Erscheinungsform entsprach der römischen Göttin der Weisheit mit streng hochgestecktem dunklem Haar. Trotz ihrer offiziellen Jungfräulichkeit trug sie meist eine lange Stola über der kurzen Tunika. Ihr Antlitz war schön, es fehlte jedoch jegliches Weiche, Sanfte in ihrer Erscheinung. Auf Helm, Speer und Schild verzichtete sie oft, doch Athena, ihr kleiner Steinkauz, saß meist auf ihrer Schulter, so auch heute. „Guten Abend ihr beiden, was macht ihr denn hier?“
„Lange Geschichte…“, winkte Nikolaos ab.
„Ich möchte sie trotzdem hören“, insistierte Minerva mit erhobener Augenbraue.
Mirabella schilderte von ihrer Absicht gemeinsam zu trainieren, den Energieproblemen im Olymp und dem Angebot von Mars.
„Unverantwortlich!“, sagte Minerva kopfschüttelnd. „Ich werde mal wieder ein ernstes Wort mit Mars sprechen müssen. Wahrscheinlich hat er euch auch noch im Gebiet der Riesen ausgesetzt?“
„Zumindest sind wir auf unserer Flucht vor den Wildschweinen in einer Riesenhöhle gelandet, daher haben wir uns auch hierher teleportiert.“
„Wildschweinen?“
„Sie sahen so ähnlich aus, aber größer und wilder…“
„Und fleischfressend“, ergänzte Nikolaos. Minerva nickte und schüttelte erneut verärgert den Kopf.
„Davor konnten wir aber Aikido trainieren. Oh, da fällt mir ein. Wir haben eine Jakla getroffen, der habe ich Kühe versprochen. Könntest du das Diana ausrichten…“
Minerva zeigte ihr seltenes Lächeln, das strenge Gesicht wirkte gleich wesentlich liebreizender. „Du kannst ihr das selbst sagen. Wir müssen jetzt sowieso zum Treffen.“
In diesem Moment fing Mirabellas Mond an zu leuchten. Sie hatte gerade noch Zeit, Nikolaos zu winken, dann stand sie schon im Diana- Tempel auf dem Aventin Hügel, einem der sieben Hügel Roms, ein paar Kilometer weiter.
„Guten Abend“, grüßte Diana, die Göttin der Jagd. Sie trug eine kurze Tunika, ebenfalls hochgesteckte, mit goldenen Bändern gehaltene blonde Haare. Ihre Schulter zierte ein Bogen, ihr Markenzeichen, an ihrer Seite stand eine kleine braune Hirschkuh, die Mirabella mit sanften Augen anblickte. Die beiden Göttinnen berührten sich zur Begrüßung kurz mit den Fingerspitzen, es kam Mirabella vor, als würde Energie bei der Berührung fließen.
Im nächsten Moment traf Vesta ein. Sie trug ebenfalls eine Stola und ein Tuch über dem Kopf, ähnlich wie Inderinnen ihren Sari drapieren, wenn der Kopf bedeckt sein soll, oder wie die heilige Maria dargestellt wird. Ihre schulterlangen gelockten dunklen Haare mit dem Pony umrandeten das schöne nicht mehr jugendliche Gesicht. Sie nickte allen freundlich zu, schenkte Mirabella sogar ein Lächeln. Wenn Mirabella eine Eigenschaft zu Vesta einfiel, dann war es Güte. Vielleicht würde sie ihr Urteil auch revidieren müssen, wenn sie Vesta mal in Verhandlungen mit dem Norden gesehen haben würde, wahrscheinlich konnte sie durchaus hart verhandeln. Sie genoss das Vertrauen der Götter, den Kurs zu bestimmen und war auch für die Bewachung der Zwillingsstatue zuständig, sie war sicher eine harte und schwierige Gegnerin, vor allem aber fand Mirabella sie weise und besonnen. Minerva war klug und gebildet, aber geriet leicht in Zorn, etwas, dass sich Mirabella bei Vesta überhaupt nicht vorstellen konnte.
„Nun, Diana, du hast uns gerufen, welches ist unsere Mission heute?“, fragte Vesta geduldig.
„Ich dachte, wir besuchen die Pterippus“, Mirabella lächelte bei Erwähnung der Flügelpferde erfreut, „Apoll sagte mir, die Pflanzen würden sich langsam erholen, aber die Pferde hätten Angst, dass die momentanen Weideflächen nicht ausreichen würden.“
Die drei Göttinnen bestiegen mit Mirabella zusammen eine Blase, die sie außerhalb Roms flog, dort befand sich ein Portal für die Zwischenwelt der Monster und Fabelwesen. Sie passierten das Portal und flogen über Wiesen und Wälder weiter, bis sie zu grünen Weideflächen kamen, die jedoch ringsum von braunen Stellen umgeben waren. Hunderte von Flügelpferden grasten auf einer Weide, Mirabella erkannte Schimmel, Rappen, Füchse und Braune mit Flügeln in den verschiedensten Farben. Ein großer Schwarzer mit goldenen Flügeln stand in der Mitte, sein Kopf wachend über der Herde. Dieser war als Gesandter bei der Aufnahmefeier eingeladen gewesen.
„Ist das der Anführer?“
„Melanos? Ja, er führt die Herde an und vertritt sie bei Verhandlungen. Er ist ein sehr weises Pferd. Es gibt viele Junghengste, die übernehmen möchten, aber noch braucht er seinen Platz nicht zu räumen.“
Die Blase landete in der Nähe von Melanos und die Olympier traten in Erscheinung. Ein Fohlen erschrak, aber Diana streichelte es beruhigend.
„Seid gegrüßt, Göttinnen!“, kam Melanos nun zu seinem Besuch. Dann blieb sein Blick bei Mirabella hängen. „Bist du Mirabella, die Halbgöttin?“
Das Mädchen lächelte überrascht. „Ja.“
„Palatina sprach von dir. Ich danke dir für ihre Rettung.“ Er berührte sanft ein anderes Pferd am Hals. „Hol sie her, bitte!“
„Oh, gerne, sie rettete mich einst, als ich mich mit Merkurs Flügelschuhen verirrt hatte“, gab Mirabella zu.
Minerva hob nur ihre Augenbraue, aber Diana lachte laut auf. „Die sind verdammt schnell, nicht wahr, Mira?“ Diana war die einzige der Götter, die sie bei ihrem Spitznamen rief. Das Mädchen nickte leicht grinsend.
Nun räusperte sich Vesta. „Melanos, wir kommen, um zu fragen, wie es euch geht, ob wir euch helfen können.“
Melanos schnaubte seufzend. „Der Befall scheint gestoppt zu sein, aber die Weideflächen erholen sich nur langsam. Ich fürchte, wir werden für die nächsten Wochen nicht genügend Futter finden, wenn wir unsere Weideflächen nicht verlassen dürfen.“
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