1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Mirabella klappte das Buch zu und drehte sich auf den Rücken. Sie lag am Strand im Halbschatten, um sie herum spielten Kleinkinder im Sand, Leute gingen baden oder aßen ein Eis, aber sie war mit ihren Gedanken in einer anderen Welt. Die Geschichte des Krieges nahm sie mehr mit, als sie vermutet hätte. Der Krieg hätte beinahe die Götter, ihre ganze Welt vernichtet. Thors Pflegesohn war gestorben, vielleicht im Kampf, vielleicht aber auch durch die Entführung? Neptuns Frau und alle anderen Titanen waren vernichtet worden, sowie unzählige Halbgötter und Zwischenweltwesen. So viel Grausamkeit und Unrecht auf beiden Seiten, kein Wunder, dass eine Versöhnung nicht in Aussicht stand. Dabei waren die Asen und die Olympier laut Jupiter miteinander verwandt, ebenso die indischen Veden. Hatten die Asen dann ihre eigenen Vorfahren, die Titanen, vernichtet? Mirabella stellten sich einige Fragen, die sie an Vesta richten würde. Diese hatte auch angedeutet, dass Ermittlungen zum Raub der Zwillingsstatue laufen würden. Unwahrscheinlich, dass Vesta das junge Mädchen einweihen würde, aber Mirabella würde auf jeden Fall nachhaken. „Das Ende des Göttergeschlechts naht, nur wer wahrhaft Frieden sucht, kann vereinen, was vereint gehört.“ Dies war ein Satz des Orakels von Delphi gewesen, den Nikolaos ihr später wiederholt hatte. Mirabella hatte im Tempel des Apolls zwei Sätze auf Griechisch wiedergegeben, konnte sich selbst jedoch nicht daran erinnern. „Was vereint gehört“, das konnten doch nur die Zwillingsstatuen sein, dachte sie. Deshalb wollte sie Vestalin werden. „Aus Freund wird Feind!“, war der erste Satz gewesen. Man konnte nicht behaupten, Olympier und Asen wären befreundet, wer war damit gemeint?
Mirabellas Gedanken fingen wieder an zu kreisen und wurden wirrer und wirrer. Nebelschwaden der Sinne versperrten die Sicht, bis Vesta vor ihrem geistigen Auge erschien. „Wenn der Mond leuchtet, komm zu mir!“ Die Göttin lächelte sie so gütig an, dass Mirabella mit einem Lächeln aus ihrem Traum aufwachte. Sie musste in der Mittagshitze weggedöst sein. Sofort sah sie zu ihrem Armband, aber es leuchtete nicht. Sie hörte wieder das Rauschen der Wellen, das Zirpen der Zikaden im Hintergrund, gähnte herzhaft und trank einen Schluck Wasser. Nach einer Weile des müden Starrens aufs Meer, beschloss sie, ins Wasser zu gehen, um wach zu werden. Der Ozean war herrlich, nicht zu kalt, aber auch keine lauwarme Brühe wie das Mittelmeer im Sommer, sie plantschte vergnügt im flachen Wasser und schwamm dann ein wenig hinaus ins offene Meer, als sie weit draußen jemanden im Wasser bemerkte. Dieser jemand schien ihr zu winken. Träumte sie immer noch? Mirabella kniff die Augen zusammen, aber nach dem Öffnen der Augen winkte immer noch ein dunkler Arm, nun kam der Besitzer des Arms auf sie zu geschwommen. Mirabella schwamm auf der Stelle, sah etwas nervös zum Strand, der in der Mittagshitze nun menschenleer schien. Als sie sich wieder umblickte, erschrak sie. Direkt vor ihr im Wasser schwamm ein hübsches afrikanisches Mädchen mit langen, leicht algigen Rasta-Zöpfen. Mirabella versuchte, durch das Wasser zu schauen und meinte, eine glitzernde Flosse statt Beinen zu erkennen. „Hi, bist du eine Meerjungfrau?“
„Meermädchen nennen wir uns. Ich habe eine Nachricht von Delphine für dich.“ Sie zog ihre rechte Hand aus dem Wasser, in der sie eine dunkelgrüne Flasche hielt. Mirabella musste lachen. „Eine echte Flaschenpost, ist ja cool. Danke!“
„Du hast doch heute Geburtstag, oder? Dann darfst du sie auch öffnen.“
Mirabella nickte. „Sag Delphine liebe Grüße und vielen Dank, ich habe jetzt leider nichts, was ich ihr geben könnte.“
„Ich werde es ausrichten lassen, wir sind in Staffeln geschwommen, ich habe sie nicht direkt gesehen.“
„Ah, okay“, Mirabella war noch ganz verwundert und bedankte sich noch einmal, dann tauchte die Meernixe wieder ab. Die Halbgöttin sah sich um, am Strand war immer noch niemand zu sehen. Deshalb hatte Delphine so genau wissen wollen, wo Mirabella Urlaub machte und ob sie heute Vormittag am Strand war! Gut gelaunt schwamm sie mit der Flasche zurück zum Strand, packte ihr Handtuch und ihr Buch und ging in ihren Bungalow. Dort stellte sie die Flasche auf ihren Nachttisch, das Glas der Flasche war so dunkel, dass sie den Inhalt nicht erkennen konnte. Zunächst hatte sie noch warten wollen, bis ihre Eltern zurückkamen, am Ende war sie doch zu neugierig. Sie zog am Korken, der leicht überstand, aber sie bekam ihn nicht heraus, auch wenn sie alle Kraft einsetzte. „Hm“, sie stellte die Flasche wieder hin. Dann begann sie zu lächeln, schloss die Augen und versuchte telekinetisch, den Korken zu entfernen. Tatsächlich schwebte der Korken aus der Flasche. Vorsichtig leerte sie den Inhalt auf ihr Bett. Eine zusammengerollte Karte und eine wunderschöne Muschelkette kamen zum Vorschein.
„Cara Mirabella, tibi diem natalem felicem opto! Tua amica Delphine.“ 1
Lächelnd las Mirabella den Text, Latein war die offizielle Verkehrssprache der Götter und Halbgötter. Sie hing sich die Muschelkette um den Hals, machte ein Selfie und schickte es Delphine mit Dankesgrüßen. Zufrieden betrachtete sie die Kette im Spiegel, als sie hörte, wie ihr Magen knurrte. Bevor sie sich jedoch ein Sandwich machen konnte, kehrten ihre Eltern erschöpft vom Gewürzmarkt zurück. Yasmin ließ sich in den Liegestuhl fallen und legte die Beine hoch. „Ich weiß nicht, ob das viele Stehen oder das viele Feilschen anstrengender ist…“
„Wie war dein Vormittag?“, fragte Marcus mit amüsiertem Blick auf seine Frau.
„Gut, ich habe gelesen und dann ein Geschenk von Delphine erhalten, eine Meernixe hat es mir gebracht.“
Marcus schüttelte lachend den Kopf, so ganz hatte er sich immer noch nicht an die vielen göttlichen und nicht-menschlichen Wesen und Welten gewöhnt, fand aber langsam Gefallen daran.
1Liebe Mirabella, ich wünsche dir einen glücklichen Geburtstag! Deine Freundin Delphine
„Ich bin am Verhungern. Habt ihr schon gegessen?“, fragte Mirabella nun. Ihre Eltern schüttelten den Kopf und Yasmin schälte sich aus dem Liegestuhl. „Zeit für die Geburtstagstorte, oder?“
„Torte? Gibt es die hier?“ Mirabella guckte erstaunt.
„Wirst schon sehen, geh mal mit Marcus Kaffee und Limo holen, ich decke den Tisch.“
„Okay“, Mirabella sah Marcus fragend an, aber dieser grinste nur und zog mit Mirabella zum Kiosk los.
„Und haben schon alle gratuliert?“
„M-hm.“ Mirabellas Lächeln verschwand, ihr war wieder eingefallen, dass Nikolaos nicht geschrieben hatte. Es war jetzt fast schon drei Uhr nachmittags.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Marcus
„Ach nichts, nur Nikolaos hat nicht gratuliert, dabei hatten wir gestern noch davon gesprochen.“
„Der meldet sich schon noch. Was ist mit Greta?“
„Oh, nein, sie hat sich auch nicht gemeldet. Von den Verwandten nur die jungen.“
„Die älteren haben halt deine Nummer nicht, die Großeltern haben schon bei uns angerufen, melden sich nachher noch mal.“
Das Geburtstagskind nickte und lächelte leicht gequält, sie vermisste außerdem Bert, fiel ihr auf.
„Orangina?“, fragte Marcus schmunzelnd.
Sofort stahl sich ein Lächeln zurück in Mirabellas Gesicht. „Immer!“
Mit drei Kaffees, Yasmin brauchte angeblich zwei, und vier Oranginas, der Nachmittag wäre lang, kehrten sie zurück. Marcus schaute ständig auf sein Handy und lächelte plötzlich. Als sie um die Ecke bogen und Mirabella freien Blick auf die Terrasse vor ihrem Bungalow hatte, ließ sie beinahe die Limonaden fallen.
„Nick?!...Jupiter…Greta…Bert!“ Alle drei genannten humanoid-aussehenden Wesen standen neben Yasmin. Bert, der Beo, saß auf Yasmins Schulter. Nikolaos winkte ihr lächelnd zu, eine Kette schwenkend, Greta hielt einen Kuchen mit Kerzen in der Hand und Jupiter sah aus wie ein Mafiosio aus einem „Der Pate“-Film. Er trug einen hellen Sommeranzug ohne Krawatte, Sonnenbrille und einen weißen Strohhut. Seine schwarzen Locken glänzten gegelt. Mirabella musste ein Grinsen unterdrücken und lief, so schnell es mit den vier Limonaden in der Hand ging, zu der kleinen Gruppe, drückte Yasmin die Flaschen in die Hand und wollte schon Greta umarmen, als ihr auffiel, dass sie Jupiter wahrscheinlich als erstes begrüßen sollte. Sie verbeugte sich vor ihm, und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Die besten Wünsche zu deinem Geburtstag, mein Kind!“
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