„Ich könnte aufhören zu existieren.“
Mirabella schluckte. „Und früher waren es sechs Vestalinnen?“
„Ja, aber sie hatten auch andere Aufgaben, ich zeigte mich den rein menschlichen nicht. Das Feuer oben war ein rein irdisches.“
„Bin ich jetzt die einzige Vestalin oder gibt es andere?“
„Nein, es wird nur dich geben. Die Kinder der anderen Götter erhalten meist genug andere Aufgaben und in Friedenszeiten empfand ich es nicht als notwendig, jemanden auszubilden, aber die Zeiten haben sich geändert... Und du weißt, dass die Statue dich erwählt hat. Bist du dir sicher, dass du diesen Schritt gehen willst?“
Mirabella schluckte leicht und nickte. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich das machen muss.“
Vesta betrachte das junge Mädchen ernst. „Den Willen der Statuen kann selbst ich nicht beeinflussen, aber du hast meine volle Unterstützung. Als ältere Schwester deines Vaters bin ich so eine Art Patentante zu dir, wie ich dir bereits sagte. Ich hoffe, unser Verhältnis wird ein enges, aber ich rate dir: binde dich emotional nicht zu stark.“
Mirabella nickte erneut, hörte ihren eigenen Atem und spürte Gänsehaut an Armen und Beinen.
„Nun trete näher. Traditionell sagte der Pontifex Maximus etwas Ähnliches, mein Spruch betrifft natürlich unsere Welt. Knie nieder.“
Mirabella sank auf ihre Knie und beugte das Haupt. Vesta legte dem Mädchen ihre rechte Hand auf den Kopf und sprach feierlich: „Sacerdotem Vestalem, quae sacra faciat, quae ius sciet sacerdotem Vestalem facere pro genti intermundo Olympiisque, uti quae optima lege fuit, ita te, amata Mirabella, capio.“ (Dich, geliebte Mirabella, ergreife ich als vestalische Priesterin, die die heiligen Handlungen ausführen soll, wie sie die Vestalin nach Recht und Gesetz zum Wohle der zwischenweltlichen und Olympischen Geschlechter auszuführen hat.)
Mirabella spürte, wie Energie auf sie überging, die vom Kopf abwärts durch ihren Körper strömte. Ihr Armband begann wieder zu glühen. Nun nahm Vesta ihre Hand von Mirabellas Kopf und gebot ihr aufzustehen.
Sie ergriff die Hand der jungen Vestalin und führte sie zur Metalltür. Mit ihrer und Vestas Hand gemeinsam formten sie einen Schlüssel, der die Metalltür aufsperrte. Vesta öffnete jedoch nicht die Tür, sondern verschloss sie sogleich wieder und ließ Mirabellas Hand los.
„Ich dachte, es braucht zwei Vollgötter dafür“, sagte die neu geweihte Vestalin erstaunt.
„Ein Gott kann durch eine Vestalin ersetzt werden. Sage mir nun, welche Schutzmaßnahmen existieren im Inneren?“
„Dein Feuer unter der Statue im Boden, das die gesamte Fläche in Brand setzen könnte. Minerva spendete ihr Ziegenfell mit dem versteinernden Medusenhaupt, das durch die Spiegel der Venus in alle Richtungen blickt. Jupiters Adler kommt geflogen und pickt die Augen aus. Neptuns Dreizack spaltet die Erde, so dass der Dieb in einem Spalt verschwindet. Ein Fangnetz von Vulcanus fällt von der Decke.“
Mirabella überlegte weiter. „Mars hat einen Speer gegeben, Diana Pfeil und Bogen, Herkules seine Keule, Ceres die Doppelaxt, die zielen alle auf den Dieb.“
„Und Apoll?“
„Dessen Kitharaspiel schläfert den Dieb ein, ein unwiderstehlicher Krug mit Wein von Bacchus soll ihn betrunken machen.“
„Wer lauert noch?“
„Ach ja, Nyx, der Bruder des Zerberus.“ Zerberus war der dreiköpfige Höllenhund, ein fürchterliches Ungeheuer.
„Du hast noch jemanden vergessen. Merkur.“
„Oh, stimmt, der Meister der Magie, der macht die Statue unsichtbar. Für alle außer dich und Merkur.“
„Und dich.“
„Stimmt“, Mirabella erinnerte sich, dass sie damals beim kurzen Öffnen der Tür, als Vesta und Merkur der Schulklasse die Kammer zeigten, die graue unscheinbare Statue sehen konnte.
„Was ich noch nicht verstanden habe, am wahrscheinlichsten ist es doch, dass die Nordischen Götter die Statue stehlen wollen. Das sind doch Energiewesen wie ihr, oder? Können die nicht einfach durch die Wand und die Statue mitnehmen?“
Vesta lachte. „Zum Glück nicht. Wir können zwar Materie teleportieren, Gegenstände und auch euch Halbgötter, aber die Wände und Tür dieses Innenraums lassen keine Teleportation zu, weder hinein, noch hinaus. Das Innere ist außerdem so beschaffen, dass wir eine Form annehmen müssen, reine Energiewesen, die sich nicht in einen Körper verwandeln, leiden hier größte Qualen. Das ist das Werk von Vulcanus, wirklich genial. Am besten ist jedoch, dass die Statue nicht teleportiert werden kann. Wir wissen nicht, warum, aber die Statue kann nur auf irdischem Wege transportiert werden. Es muss also jemand Körperliches hineingehen und sie als Statue hinaustragen, anders kann man sie nicht stehlen.“
„Wow, könntest du überhaupt unbeschadet hineingehen?“
Vesta zögerte. „Nur, wenn alle Götter ihren Artefakten Einhalt gebieten, kann der Raum unbeschadet betreten werden. Ich kann über die Feuerstelle, wie ich dir vorhin erklärte, jederzeit in den Raum einblicken.“
„Natürlich.“ Mirabella überlegte. „Und wie merke ich, dass hier jemand eindringen will?“
„Dir ist von mir nun eine gewisse Macht verliehen worden. Du kannst deinen göttlichen Energieanteil jederzeit hierher teleportieren, dieser Teil spürt, wenn Gefahr droht, es wird eine untrennbare Verbindung mit dem Heiligtum aufgebaut werden, langsam. Du wirst es spüren. Allerdings kann der Energieteil nur beobachten. Wenn du körperlich anwesend sein möchtest, musst du Dianas Armband verwenden.“
Sie konnte ihren Energieanteil vom Körper trennen und hierher entsenden? Mirabella wurde es heiß und kalt bei der Vorstellung. „Hat seither noch einmal jemand versucht, die Statue zu klauen?“
„Nicht ernsthaft, die Sicherheitsmaßnahmen wurden derart verschärft. Vor dem Diebstahl haben nur die Tür, die Mauern, das Feuer und Nyx die Statuen bewacht.“
„Das heißt, jemand hat auch damals die Tür öffnen können? Gab es eine Vestalin?“
Vestas Miene verdunkelte sich und sie nickte schwer. „Eine Halbgöttin, ich fand sie tot hier auf, nachdem die Statue verschwunden war. Sie war die letzte Vestalin – bis heute.“
Mirabellas Mund wurde trocken. Worauf hatte sie sich eingelassen? Sie hörte das Blut in ihren Schläfen pulsieren. Als sie sprechen wollte, kam nur ein Krächzen heraus, schnell räusperte sie sich und versuchte mit ruhiger Stimme zu sprechen. „Er-mordet?“
„Wie sie starb, weiß ich nicht, ich fand nur das, was Nyx von ihr übrigließ.“
Mirabella schluckte erneut, während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Du meintest, es würden Ermittlungen laufen bezüglich des Diebstahls. Hast du jemanden unter Verdacht?“
„Wir haben keinerlei Beweise, daher bin ich sehr vorsichtig mit Anschuldigungen. Ich möchte dich auch nicht auf eine möglicherweise falsche Fährte führen.“
„Womöglich gab es Verräter aus den eigenen Reihen, einen der Olympier?“ Mirabella sah Vesta fragend an.
Diese nickte. „Ich kann dir nichts Konkretes sagen.“
„Mars?“ Mirabellas Lieblingsfeind. „Er will doch sicher keinen Frieden.“
Vesta nickte. „Die Möglichkeit besteht, wobei ich ihm eigentlich keine betrügerischen Handlungen zutraue. Das ist nicht seine Art.“
„Heißt es nicht: ‚Silent leges inter arma‘ ?“ (Im Krieg schweigen die Gesetze. (Cicero)) Allyra, Mirabellas Lateinlehrerin im Olymp, war ein großer Fan von Cicero und ließ die Schüler sämtliche Reden lesen.
„Im Krieg und in der Liebe, so lauten die Sprichwörter“, gab Vesta zu. „Wenn ich ehrlich bin, kann ich nur sicher uns drei Amazonen ausschließen.“
„Was? Selbst Jupiter?“
„Nun, er könnte sich verantwortlich gefühlt haben, den Krieg zu beenden. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass sie jemand mit besten Absichten stahl, die Verhandlungen jedoch nicht so verliefen wie geplant. Natürlich kann man auch nicht ausschließen, dass jemand Jupiter mit Hilfe der Asen stürzen wollte. Der Krieg ist fast 1500 Jahre her, wir haben uns alle weiterentwickelt.“
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