„1500 Jahre?“
„Kurz vor dem Ende des Römischen Reiches.“
„Und ihr habt immer noch nicht herausgefunden, was passiert ist?“
„Priorität hatte der Schutz der verbliebenen Statue. Dass sie seit 1500 Jahren sicher ist, beweist die Qualität unseres Sicherheitssystems.“
„Ihr wollt gar nicht mehr so genau wissen, was damals passierte?“, dachte Mirabella laut. Erschrocken über ihre eigenen Worte sah sie auf.
Vesta nickte steif. „Manch einer findet es besser, die alten Geschichten nicht mehr anzurühren. Ich möchte vor allem, dass die beiden Statuen wieder vereint werden.“
„Klar. Hat das alles mit dem Tod von Thors Sohn zu tun?“
Vesta sah anerkennend auf. „Du hast in dem Buch gelesen, das ich dir gab? Ja, es hat mit Wingnis Tod zu tun. Es heißt, er wäre im Kampf gefallen, er war nicht unsterblich.“
„Aber?“, hakte Mirabella neugierig nach.
„Ich denke, er starb in Gefangenschaft. Mars, Neptun und Jupiter scheinen als einzige zu wissen, was wirklich passierte, aber sie schweigen sich dazu aus und bestehen offiziell auf dem Heldentod im Kampf.“
„Zweifelt der Norden die Version an?“
„Ich fürchte.“
„Stimmt es, dass der Norden die Titanen vernichtete? Das waren doch auch ihre Vorfahren oder nicht?“
Vesta lächelte leicht. „Du spürst zielsicher die wunden Punkte auf, Mirabella. Auch dazu gibt es zwei Versionen. Riesen, Titanen, Wanen und Giganten entstanden in den Zwischenwelten, entwickelten sich zu gottähnlichen Wesen und ließen sich teilweise auf der Erde verehren. Als wir kamen…“
„Seid ihr anderen Ursprungs?“, unterbrach Mirabella spontan. „Entschuldige!“
Vesta lächelte milde. „Ehrlich gesagt, ist unsere Evolution zu Energiewesen so lange her, dass wir nicht mehr wissen, woher wir ursprünglich kamen, wohl aber mit den Statuen. Seit vielen Jahrtausenden sehen wir Eurasien und die Zwischenwelten als unser Zuhause an. Wie du weißt, verteilten wir uns und beanspruchten Gebiete. Sowohl die späteren Asen als auch die späteren Olympier gingen Verbindungen mit den Riesen und anderen Zwischenweltwesen ein, so mancher Gott hat Zwischenweltvorfahren. Die Titanen erwählten uns als ihre rechtmäßigen Nachfahren, es gab Verbindungen, wie die Neptuns mit Amphitrite. Die Giganten erwählten die Asen zu ihren Nachfahren, obwohl Odin ebenfalls die Nähe der Titanen suchte. Als die Titanen jedoch den Kontakt mit Odin ablehnten, stürmten die Giganten auf Geheiß der Asen den jungen Olymp. Du hast sicher von dem Kampf gehört, an dem sich auch Herkules und Bacchus, damals noch nicht Olympier, beteiligten?“
Mirabella nickte fasziniert.
„Die Giganten wurden geschlagen. Die Asen kämpften danach mit den nordischen Wanen und wurden später als ihre Nachfolger akzeptiert. Seit der Gigantenschlacht herrschte jedoch Hass zwischen den Göttergeschlechtern. Der Krieg brach in der Zwischenwelt aus. Nach dem Diebstahl der Statue, wurden zwei Söhne Thors vom Süden gekidnappt, Wingnis Tod besiegelte das Schicksal der Titanen, der Norden sann auf Rache.“
Mirabella verstand plötzlich. „Daher die Vernichtung der Titanen.“
Vesta nickte traurig. „Wobei sich die Asen der Riesen bedienten. Thor ordnete wohl die abscheuliche Tat an und Odin duldete sie.“
Mirabella erschauerte. „Odin ist irgendwie gruselig.“
Vesta lächelte. „Der Einäugige, er opferte sein Auge für die Weisheit, heißt es. Ohne seine Weisheit würden wir vielleicht immer noch Krieg führen oder nicht mehr existieren, aber er flößt selbst mir Respekt ein.“
Sie schwiegen einen Moment. Mirabella spürte, wie die Verbindung zum Tempel konkreter wurde und ließ die neuen Sensationen und Informationen auf sich einwirken. Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatte, als sie plötzlich Vestas Blick auf sich ruhen sah. Sie lächelte verlegen, aber die Göttin erwiderte das Lächeln.
„Genug für heute, genieße deinen letzten Urlaubstag!“
Vesta kreierte eine Blase und Mirabella schwebte zurück.
Abends im Bett dachte Mirabella über all das nach, was Vesta ihr gesagt hatte. Erneut stellten sich ein Kribbeln im Bauch und schweißige Hände bei der Vorstellung ein, für den Schutz der Statue mitverantwortlich zu sein. Sie schloss die Augen und versuchte ihren Energieanteil auf Reisen zu schicken. Sie spürte die Verbindung zum Heiligtum, aber es gelang ihr nicht, ihren Geist, ihre göttliche Hälfte von ihrem Körper zu trennen. Erschöpft schlief sie ein.
6 - DER HALBGÖTTER-STAMMTISCH
„Aaahhh, auxilium! Non, noooonnnn…“ Voller Angst wachte Mirabella in ihrem Bett auf, starrte die Wand ihr gegenüber an, während sie sich aufsetzte und noch immer diese junge weibliche Stimme in ihrem Kopf hörte. Es war noch dunkel im Zimmer, die Beo-Familie schlief friedlich im nun geschlossenen Käfig, eine Vorsichtsmaßnahme wegen der Kleinen. Mirabella versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern, aber sie fand keine Bilder, nur die Stimme eines jungen Mädchens, das um Hilfe schrie. Mirabella hatte erneut versucht, ihre göttliche Hälfte von ihrem Körper zu trennen und zum Vesta Tempel zu schicken, aber es war ihr wieder nicht gelungen, dann war sie eingeschlafen und hatte jene Stimme gehört, die ihr Gänsehaut bereitete.
Es fröstelte sie leicht, Mirabella sank zurück auf ihr Kissen und zog sich die Bettdecke bis ans Kinn. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, Vestalin zu werden. Sie war froh, dass heute Nikolaos zu Besuch kommen würde. Er würde sie auf andere Gedanken bringen, morgen wollten Luk und Toni mit den beiden Halbgöttern Mirabellas Geburtstag nachfeiern. Seufzend schlief sie noch mal ein, traumlos, und wurde erst vom Klopfen an der Tür geweckt.
„Mirabella, aufstehen, wir müssen zum Flughafen!“
Da Nikolaos an Ostern bereits in München zu Besuch gewesen war, mussten sie dieses Mal kein touristisches Programm abarbeiten. Die Geschwister trafen sich oft mit Lukas und Antonia, gingen schwimmen, bladen oder spielten Tennis, unternahmen Radtouren und grillten an der Isar. Das Band zwischen Mirabella und Nikolaos schien eng wie eh und je, sie verstanden sich ohne Worte, tauschten still vergnügt ein Lächeln aus und doch spürte Mirabella, dass sich etwas geändert hatte. Sie hatte sich verändert. Nicht nur, dass in den Sommerferien ihre Tage erstmalig eingesetzt hatten und sie die berühmt-berüchtigte Pubertät nicht mehr länger leugnen konnte, stets begleitete sie das Bewusstsein, Vestalin zu sein. Eine gewisse Distanziertheit ergriff von ihr Besitz, oft war sie mit ihren Gedanken bei der Statue, dem Raub, der Stimme, die ihr immer wieder im Traum erschien, oder der Prophezeiung. Manchmal sah sie Nikolaos nachdenklich an, wenn er ins Gespräch mit ihren Freunden vertieft war, wie gerne hätte sie sich ihm anvertraut, aber sie wollte ihn mit ihren Sorgen nicht belasten, die Vestalin-Geschichte war ganz allein ihre Aufgabe, die sie selbst meistern musste. Jupiter hatte seinem Sohn andere Aufgaben zugewiesen.
„Was macht eigentlich die Arbeit an dem Vertrag?“, fragte sie eines Tages, als sie am Frühstückstisch saßen. Ihre Adoptiveltern waren schon lange in der Arbeit.
Nikolaos stöhnte. „Dieses Vertragswerk ist trockener als die Wüste Gobi. Zu einer Verhandlung kam es noch nicht. Ich hoffe, Jupiter hat noch Spannenderes für mich zu tun!“
Mirabella lächelte leicht.
„Und du? Hattest du schon einen Einsatz als Vestalin?“
Mirabella schüttelte den Kopf. „Seit 1500 Jahren ist die zweite Statue sicher in der ‚Kammer des Schreckens‘, da wird so schnell keiner kommen.“
„Hoffentlich! Der letzten Vestalin erging es ja nicht so gut…“
„Woher weißt DU denn das?“, fragte Mirabella erstaunt.
„Jupiter machte eine Bemerkung, er macht sich wohl Sorgen um dich.“
Читать дальше