Mirabella nickte. „Meinst du, wir könnten uns zur Not in den Jupitertempel transportieren lassen?“ Erst jetzt bemerkte sie, dass Nikolaos in der Bewegung eingefroren war und in Richtung Portal starrte. Sie folgte seinem Blick und sah Wald und sonst gar nichts. „Es ist weg, oder?“
„Schaut so aus. Dann müssen wir wohl auf Mars oder das Amulett vertrauen…“
Die Geschwister gingen weiter. „Hoffentlich kommen keine Riesen, mit denen kann man nicht verhandeln“, bemerkte sie beunruhigt. Zweimal schon befand sich Mirabella in der Pranke eines Riesen, einmal halfen ihr die Amazonen, das andere Mal, während ihrer Prüfung, kam sie nur um Haaresbreite mit dem Leben davon.
„Wahrscheinlich ist ihr Geist aber ausreichend primitiv für Suggestion.“
„Ja, das könnte stimmen.“ Sie lachte, wenngleich sie wusste, dass Riesen nicht Monster im eigentlichen Sinne waren. Es waren primitive Götter und wahrscheinlich nicht so leicht zu beherrschen. Plötzlich blieb sie stehen. „Hatten wir nicht eigentlich üben wollen? Also, Aikido.“
„Stimmt. Sollen wir?“
Die beiden sahen sich um, eine kleine Lichtung in der Nähe schien geeignet. Monster konnten sie keine entdecken und so trainierten sie eine Kata und übten sich vorsichtig im Zweikampf, niemand wollte den anderen ernsthaft verletzen. Nach einiger Zeit vergaßen sie ganz, dass sie von Monstern umgeben waren und ruhten sich erschöpft im Gras aus.
Wie schon oft im Olymp lagen sie nach dem Training nebeneinander und starrten in die Wolken. Mirabella hatte immer die Unterhaltungen mit ihrem Bruder, die entspannte Stimmung und die Verbundenheit genossen. Seit der Prüfung jedoch quälte es sie, vor Nikolaos ein Geheimnis zu haben, aber die Angst, ihn zu verlieren, ließ sie auch jetzt wieder zögern. Was, wenn sich danach alles zwischen ihnen ändern würde, wenn er sie nicht mehr als Olympierin, als seine Schwester und beste Freundin ansehen würde? Andererseits, war er nicht ihr bester Freund? Teilte man nicht mit seinen Freunden die Sorgen?
„Nick?“
„Ja?“
„Ähm, ich wollte dir schon länger…“
„Pscht! Da ist was!“, unterbrach er sie und Mirabella schwieg.
Tatsächlich hörten beide ein Rascheln im Laub, dann ein Schnauben. Zwischen den dichten Büschen sah man nur so eine Art Schatten, der sich bewegte, dann mehrere dunkle Konturen. Schließlich bewegten sich die Büsche und plötzlich stand eine Herde wildschweinartiger Wesen am Rand der Lichtung. Die Jugendlichen waren aufgesprungen und langsam rückwärts in die andere Richtung gelaufen.
„Sind das solche wie bei Herkules?“, zischte Mirabella leise.
„Ich weiß nicht, aber auch wenn sie verwundbar wären, wir haben gar keine Waffen. Für Suggestion sind es zu viele, ich weiß gar nicht, auf wen ich mich da konzentrieren sollte…“
Mittlerweile standen über zehn riesige haarige Wildschweine mit ein paar Jungtieren auf der Lichtung und starrten auf die beiden Jugendlichen, die sich nicht trauten, sich zu bewegen. Ein Eber war besonders groß, seine Hauer erinnerten eher an dicke Säbel als an Zähne, Blut klebte an ihnen. Mirabella schluckte und sah zu Nikolaos hinüber.
„Beweg dich nicht!“, flüsterte er. „Meinst du, wir schaffen es rechtzeitig auf einen Baum?“
„Und wenn sie die umstürzen, die Bäume hier sind ziemlich klein.“
„Was schlägst du dann vor?“
Sie überlegte kurz. „Eine Feuerwand. Das verschafft uns Zeit.“
„Okay“, stimmte Nikolaos zu, „vielleicht finden wir ja eine Höhle.“
Mirabella schwang blitzschnell ihre Hand und kreierte einen Blitz. Die Wildschweine schraken zurück. Sie konzentrierte sich erneut und setzte mehrere kleine Blitze in einer Reihe, bis eine mannshohe Feuerwand auf der Lichtung brannte. Die Jugendlichen rannten tiefer in den Wald, so schnell sie konnten, die Bäume wurden wieder höher, Felsen tauchten mal auf der einen, mal auf der anderen Seite auf, als ihnen plötzlich ein riesiger Stein auffiel, der in einem Felsenloch zu stecken schien. „Dahinter ist vielleicht eine Höhle!“, rief Nikolaos aufgeregt. „Meinst du, wir können den Stein zur Seite schieben?“
Sie lauschte in den Wald und hörte am Knacken der Äste und Rascheln des Laubes, dass die Wildschweine ihre Fährte aufgenommen hatten, sie würden bald hier sein.
„Okay, wir müssen uns beeilen.“
Beide schlossen ihre Augen und konzentrierten sich auf den Felsen. Er war ungeheuer massiv und bewegte sich keinen Zentimeter.
„Wir müssen die Kräfte vereinen.“ Er ergriff ihre Hand, sie spürte seine warme leicht verschwitzte Haut und seine Energie. Gemeinsam konzentrierten sie sich auf ihre vereinte Kraft und versuchten erneut, den Felsen zu bewegen. Sie hörten ein schabendes Geräusch am Boden, der Fels bewegte sich, langsam, aber er bewegte sich. Der entstandene Spalt war sehr schmal.
„Mira, versuch es mal.“
Sie steckte ihren Kopf in den Spalt, sie musste den Kopf seitwärts drehen und sich durch den Spalt drücken, aber sie kam durch. Nikolaos folgte ihr, sein Brustkorb war jedoch kräftiger und er schien festzustecken. „Sie sind da! Zieh!“
Sie hörte draußen das Schnauben der Wildschweine und zog am Arm ihres Bruders mit voller Kraft. Mit einem Ruck stürzte er in die Höhle hinein und auf sie drauf. „Aua!“
„Sorry, danke!“ Beide mussten lachen, bis sie die Wildschweinschnauze im Felsspalt sahen.
„Wir müssen den Spalt wieder schließen.“
Sie konzentrierten sich erneut und schoben den Fels mittels ihrer Kräfte ein Stück zurück. Das Wildschwein zog sich quiekend zurück und scharrte verärgert mit seinen Hufen vor dem Felsbrocken.
„Ich suggeriere jetzt dem Anführer, dass es woanders etwas zum Fressen gibt“, erläuterte Nikolaos und schloss die Augen.
Durch den Spalt fiel kaum Licht in die Höhle. Mirabella sah sich misstrauisch um, ihr Instinkt gebot Vorsicht. Sie kreierte einen Energieball, der ein warmes Licht in die Höhle warf. Im Schein des Lichtes nahmen die Schatten Gestalt an und sie erschrak mit einem leisen Schrei des Entsetzens. Ein riesiger Stuhl samt Tisch und ein riesiges Bett ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass dies die Höhle eines riesenhaften Diplopoden, eines Zweifüßlers, war.
„Was ist?“, fragte Nikolaos irritiert und öffnete die Augen. Sein Blick fiel auf Mirabella, dann auf den Stuhl und zurück zu ihr.
„Riesen?“
„Oder ein Zyklop“, antwortete sie schwer. Zyklopen, riesige einäugige humanoide Wesen, waren in der Regel nicht so aggressiv wie die Riesen und hielten sich auch besser an die Vereinbarungen mit den Göttern, aber schwören hätte Mirabella darauf auch nicht wollen. „Wenn es Zyrron oder Pyr wären, wäre es kein Problem, aber wie wahrscheinlich ist das…“
Kaum hatte sie dies ausgesprochen, erzitterte die Erde. Bam, bam, bam, die Schritte eines riesigen Wesens erschütterten den Boden.
„Was macht ihr denn hier?“, schnauzte eine rauhe unbekannte Stimme die Wildschweine draußen an. In Riesensprache. Es konnte immer noch ein Zyklop sein, die Monster sprachen jeder ihre eigene Sprache, wie auch die Tiere. Mirabella verstand sie automatisch, das lief über ihre göttliche Hälfte, sie hätte nicht erklären können, wie es genau funktionierte, ihr Gehirn verstand direkt, was gesagt wurde. Die verschiedenen Monster untereinander sprachen jedoch in der Sprache der Riesen, sie stellte ihre Verkehrssprache dar. Riesen und Zyklopen beherrschten meist auch Griechisch oder Latein, wodurch sie sich mit den antiken Helden hatten verständigen können.
„Zeit zu verschwinden!“, zischte Mirabella und ergriff ihr Amulett, küsste und öffnete es. „Te aper-i!“
Nikolaos wollte es ihr gleichtun, aber sein Amulett ließ sich nicht öffnen. „Es ist verbogen. Ich schätze, als du mich durch den Spalt gezogen hast.“
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