Die goldene Figur vollführte einen Salto, als Mirabella ein leises Knacken vernahm und Bert aufgeregt pfiff. „Es kommt!“ Sie sah auf, ließ die Figur aufs Bett plumpsen und stürmte zum Nest der Beo-Familie. Greta hatte ihr vor vielen Jahren den sprechenden Vogel Bert geschenkt. Die geheimnisvolle Isar-Nymphe Greta war nach Mirabellas Geburt als Kindermädchen engagiert worden, ohne dass ihre Adoptiveltern etwas von Göttern, Nymphen oder Halbgöttern ahnten. Letztes Weihnachten hatte Jupiter die exotische Beo-Dame Maya zu Mirabella nach Hause gebracht. Bert hatte sich bei den regelmäßigen Zoobesuchen schwer in Maya verliebt und nun bekamen sie ihren ersten Nachwuchs. Drei Eier lagen in dem liebevoll gebauten Nest und Mirabella starrte gebannt auf das zart grünliche Ei mit kleinen hellbrauen Flecken, in dem ein kleiner Riss zu sehen war. Das Vogelbaby klopfte von innen mit dem Schnabel gegen die Schale, der Riss wurde größer, schließlich entstand ein Loch, man sah eine kleine gelbe Schnabelspitze. „Wie süß!“, entfuhr es Mirabella, die unwillkürlich lächelte. Nach ein paar weiteren Klopfern steckte der kleine Beo den Kopf aus dem Ei und befreite sich schließlich ganz. Sein grauer spärlicher Flaum lag feucht an, aber er krähte vergnügt, bis ihn Maya unter ihre Fittiche nahm und ihm etwas Nahrung aus ihrem Schnabel anbot. Bert und Mirabella beobachteten die Szene verzückt und das Mädchen vergaß zum ersten Mal seit der Prüfung ihren Kummer.
Als sie ohne Jupiters Kette den Olymp nicht hatte betreten können, war eine innere Unruhe aufgetreten, die sie nur selten ignorieren konnte. Juno, Jupiters göttliche Gemahlin, hatte ihr die bei der Prüfung verlorene Kette zukommen lassen und bei der Feier eine Unterredung mit ihr gehabt. Sie hatte angedeutet, Mirabella könnte eventuell nicht-olympischen Ursprungs sein, was das Mädchen innerlich in Panik versetzte. Das durfte einfach nicht sein, Jupiter, Nikolaos und all die anderen, sie waren zu ihrer neuen Familie geworden, die sie liebte und brauchte. Sie hatte nicht einmal Nikolaos, dem sie sonst alles anvertraute, davon erzählt. Juno hatte zudem klargemacht, dass sie eine Enttäuschung für Jupiter, der Mirabella liebte, nicht dulden würde. „Aber merke dir, wenn du Jupiter Schmerzen bereiten solltest, werde ich zu deiner Feindin“, waren ihre Worte gewesen. Falls Mirabella nicht Jupiters Tochter war, wollte sie es gar nicht wissen.
Pünktlich um neunzehn Uhr öffnete sie ihr Amulett mit einem Kuss und den Worten „Te aper-i!“ und holte Jupiters Haar heraus. Für den Unterricht waren sie täglich in den Olymp teleportiert worden, eine Technik, die selbständig nur die Vollgötter beherrschten. Die Halbgötter waren auf den Bulla-Express, schwebende Blasen, angewiesen, wenn sie alleine reisten. Von den Heiligtümern und im Olymp konnte man in Blasen, die von außen nicht einsehbar waren, an jeden beliebigen Punkt reisen. Mit Jupiters Haar konnte sie sich jedoch direkt von ihm in den Olymp holen lassen. Sie drehte es zwischen ihren Fingern und dachte an den Göttervater und Herrscher des Olymps. Im nächsten Augenblick stand sie im Thronsaal und sah sich verwundert um. Niemand außer ihr und Jupiter waren anwesend. Sie nahm zumindest an, dass es Jupiter war, denn vor ihr stand Barack Obama. Die Götter lebten noch immer von der Verehrung durch die Zwischenweltwesen und die Menschen - heutzutage in anderer Form als in der Antike. Jupiter trat besonders gern als Weihnachtsmann oder Double bekannter Persönlichkeiten auf.
„Bin ich zu früh?“, fragte Mirabella irritiert.
„Es liegt nahe, einen Witz zur deutschen Pünktlichkeit zu machen, aber ich glaube, es liegt eher daran, dass du nicht bedacht hast, dass ihr Sommerzeit habt.“
„Oh, natürlich, wie dumm von mir.“ Sie wollte gerade Jupiter bitten, sie zurückzuschicken, als Nikolaos vor ihr materialisierte. Mirabella grinste über beide Ohren. Sie freute sich, ihn zu sehen, aber war auch froh, dass er denselben Fehler wie sie gemacht hatte.
„Vater“, er nickte Jupiter zu und lächelte dann beim Anblick seiner Schwester. „Hi, Mira!“
„Hi, Nick“, sie hatte in den zwei Wochen vergessen, wie gut ihr Bruder in natura aussah, diese Erkenntnis ließ ihr Grinsen verschwinden, was er jedoch nicht sehen konnte, da er sie spontan kurz umarmte.
„Was grinst du denn so?“, fragte er vergnügt, als er sie wieder losließ.
„Ich? Oh, du hast denselben Fehler gemacht wie ich!“ Diese Tatsache zauberte das Grinsen zurück. „Wir haben Sommerzeit…“
Man konnte zusehen, wie der Groschen bei Nikolaos fiel. Er schlug sich mit der Handfläche leicht an die Stirn. „Ah, klar! Naja… ist doch gar nicht schlecht, können wir eine Stunde quatschen, oder?“
Er sah zu Jupiter, der einverstanden wirkte. „Ich komme dann später wieder.“ Obama verschwand.
„Lustig“, meinte Nikolaos, sich auf den Boden setzend, „wo ich gerade in den Staaten war, also eigentlich noch bin, wir fliegen morgen früh zurück. Obama wird vielerorts nachgetrauert.“
„Naja, das war ja auch der coolste Präsident, den sie je hatten, oder?“ Sie setzte sich neben ihren Bruder.
Nikolaos nickte und sah sie dann lächelnd an. „Ich hab‘ dich vermisst. Wie geht es dir?“
Mirabella errötete leicht, sie hätte ihm so gerne von ihren Zweifeln erzählt, aber ihr Entschluss stand fest, sofern niemand etwas Anderes behaupten würde, war sie eine waschechte Olympierin.
„Gut, bisschen langweilig zuhause.“
„Naja, du fliegst morgen los, oder?“
„Ja.“
„Freust du dich nicht?“
„Doch“, sie merkte selbst, dass sie einsilbig war. Sie sah zu ihm auf. „Ich vermisse den täglichen Unterricht, dich und die anderen zu sehen. Ich habe das Gefühl, ich komme mit einem rein menschlichen Leben gar nicht mehr zurecht. Ich habe sogar fast schon Mars vermisst!“
Nikolaos lachte. „Das will was heißen!“ Er kannte Mirabellas Abneigung gegenüber dem Kriegsgott Mars, der sie alle in verschiedenen Kampftechniken schulte. „Latein auch?“
„Sowieso, ich fand es viel cooler als gedacht!“, gab sie zu.
Er nickte zustimmend. „Ich habe das hier auch vermisst, aber wahrscheinlich werden wir bald wünschen, man würde uns in Ruhe lassen. Hab‘ durch Zufall beim Tauchen eine Tochter Neptuns kennengelernt, die vor ein paar Jahren aufgenommen wurde. Ist ganz schön stressig, was sie erzählt hat. Neptun hat ständig kleinere Aufträge für sie.“
„Kennt sie Delphine?“ Eine jüngere Tochter des Meeresgottes Neptun war zusammen mit den Jupiterkindern in einer Klasse gewesen.
„Klar, sie konnte nur zur Initiationsfeier nicht kommen, da sie ein paar Seeungeheuer aus der Zwischenwelt einfangen musste.“
„Neptun hat so sein ganz eigenes Reich, scheint mir.“
Ihr Bruder nickte erneut. „Alles unter Wasser ist seins, da würde Jupiter auch nicht dazwischenfunken. Neptun berichtet aber an ihn.“
„Na, da bin ich ja schon gespannt, was die Monsteramazonen von mir erwarten!“ Mirabella hatte sich entschieden, den drei Göttinen Minerva, Diana und Vesta bei der Kontrolle der Monster und anderer Zwischenweltwesen zu helfen. Die Zwischenwelt war eine Parallelwelt zur irdischen; Schnittstellen, so genannte Portale, verbanden die Welten miteinander. Wenn sich Zwischenweltwesen in die irdischen Gebiete verirrten, mussten sie zurückgebracht, manchmal bekämpft werden. Mirabella konnte von Geburt an mit Tieren reden und hatte feststellen müssen, dass sie die Monstersprache ebenfalls beherrschte. Sie hatte von Diana, der Göttin der Jagd, ein Armband mit einem Mondgestein erhalten, mit dessen Hilfe sie sich zu einem der drei Heiligtümer der Göttinnen teleportieren lassen konnte. Minerva war die Göttin der Weisheit und Freundin von Diana. Vesta war die jungfräuliche Göttin des Herdfeuers und der Familieneintracht und die dritte im Bunde.
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