Giscard hatte sich im Studium neben dem Maschinenbau auch für die Grundlagen der Elektrotechnik interessiert und wusste, was ein Erdschluss bedeutet. Jetzt kam ihm eine Idee. „Können wir die Pumpe 3 mit einem Trafo auf eine getrennte Sammelschiene schalten?“, fragte er. Vincent begriff sofort, was Giscard wollte. „Ja natürlich“, antwortete er, „Die Wicklung ist ohnehin im Eimer, und dadurch dürfte überhaupt nichts passieren, abgesehen von der höheren Spannung auf den beiden anderen Leitern.“ M. Giroud schaute die beiden verständnislos an, doch Giscard brauchte von ihm die Genehmigung für diesen außergewöhnlichen Betriebszustand. Er bat Vincent, ihn aufzuklären und rief zunächst den Lastverteiler an. „Wir wollen versuchen, die schadhafte Pumpe auf einem getrennten Netz im Erdschluss zu fahren. Wenn das klappt, sind wir in einer halben Stunde wieder auf Volllast.“ „Vielen Dank“, war die Antwort, „wir sind noch beim Handeln über die fehlende Leistung, das erleichtert die Sache.“
Der Chef hatte inzwischen ein wenig von Giscards Idee begriffen, doch er wollte bestätigt haben, dass dabei nichts passieren könne. „Das kann ich nicht“, sagte Giscard mit einem leichten Anflug von Arroganz, „wir erhöhen die Spannung auf den beiden anderen Leitern auf das 1,7-fache. Damit sind der Trafo und die Kabel gefährdet, obwohl ihre Isolierung dafür ausgelegt ist. Deshalb brauchen wir ja Ihre Genehmigung.“ Dem Chef war die Sache sichtlich unangenehm, doch als Giscard ihn an die wartende Lastverteilung erinnerte, stimmte er schließlich zu. Vincent nahm den Erdschlussschutz der Pumpe außer Betrieb und bereitete die notwendigen Schaltungen vor. Als sie die defekte Pumpe 3 einschalteten, ertönte die erwartete Erdschluss-Meldung, dann wurde sie hydraulisch zugeschaltet und nahm problemlos den Betrieb auf. Als die Steuerstäbe wieder aus dem Kern fuhren, meldete Giscard dem Lastverteiler dass der Reaktor in 10 Minuten auf Volllast sein würde.
Der Chef bat Giscard, ihn in sein Büro zu begleiten. Giscard fürchtete, dass er ihn wegen seiner herablassenden Haltung tadeln wollte, doch der war des Lobes voll über seine Idee und wollte wissen, woher Giscard so gute Kenntnisse der Elektrotechnik habe. So erzählte er von seiner Studienzeit. Der Chef wollte noch einige persönliche Worte loswerden und fragte, wo Giscard seinen Urlaub verbracht habe. Giscard hatte in der letzten Stunde seine Gedanken nur bei der Störung gehabt, jetzt stand ihm schlagartig wieder der tödliche Unfall vor Augen, den er vor 12 Stunden verursacht hatte. Er musste vorsichtig sein. „Ich habe am Golf de Lion gezeltet“, sagte er so ungenau wie möglich. Der Chef war damit zufrieden und erzählte, dass er lieber weiter östlich nach Fréjus in Urlaub fuhr, weil das Wasser dort wärmer sei. Damit war Giscard entlassen.
Er kam nicht weiter zum Nachdenken, denn er musste für die Aufsichtsbehörde einen ausführlichen Bericht über die Störung und die vorgenommenen Schaltungen verfassen. Damit war er noch nicht fertig, als die Arbeiten am Lager der Kühlwasserpumpe 2 fertig gemeldet wurden. Sie wurde geprüft und in Betrieb genommen, dann konnte das Provisorium mit der Pumpe 3 ausgeschaltet werden. Als Giscard danach den Bericht fertig hatte, war seine Schicht fast zu Ende. Er trank noch einen Kaffee, übergab den Betrieb an den ablösenden Schichtführer und machte sich auf den Heimweg.
Erst zu Hause merkte er, wie wenig er letzte Nacht geschlafen hatte, ihm fielen fast die Augen zu. Obwohl es erst 16 Uhr war, legte er sich hin und schlief fast drei Stunden, bis er wieder im Traum das Gesicht des toten alten Mannes vor sich sah. Er sprang aus dem Bett und duschte, dann fühlte er sich wohler. Nach einer kräftigen Mahlzeit sah er sich seinen Wagen noch einmal an. Er nahm den Kühlergrill ab und beulte die winzige Delle mit einem Gummihammer vorsichtig aus, das war in dem weichen Aluminium nicht schwer. Zufrieden betrachtete er sein Werk: Nichts war mehr zu erkennen. Dann verbrannte er die Arbeitshandschuhe, an denen etwas Blut klebte.
In den folgenden Nächten sah Giscard immer wieder das Gesicht des alten Mannes mit den starren Augen vor sich und wachte schweißgebadet auf. Nur ganz langsam verblasste die Erinnerung an das schlimme Ereignis.
Bis zum Sonntag. Nach einer Woche hatte Giscard am frühen Nachmittag die Frühschicht beendet und war jetzt zwei Tage frei. Er war gleich vom Kraftwerk nach Montélimar gefahren, um etwas zu erleben, aber am Sonntagabend war auch hier tote Hose, so dass er bald wieder nach Hause fuhr. Gegen 23 Uhr war er gerade dabei, sich auszuziehen, um ins Bett zu gehen, als das Telefon klingelte. „Eine Störung im Kraftwerk?“ dachte er, doch zunächst antwortete niemand auf sein „Hallo“. Er wollte schon wieder auflegen, als er eine alte Männerstimme hörte: „Leg’ nicht auf, ich will mit dir reden“. Giscard war ärgerlich. „Wer sind Sie?“, fuhr er den anderen an. „Ich bin der alte Mann, den du jetzt genau vor einer Woche angefahren und dann ins Wasser geworfen hast“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, und man konnte hören, wie sie das Sprechen anstrengte.
Giscard fühlte, wie ihm die Haare zu Berge stiegen. „Was wollen Sie von mir?“, zwang er sich, mit fester Stimme zu fragen. „Das wirst du bald hören“, war die Antwort, dann wurde aufgelegt. Tausend Gedanken fluteten ihm durch den Kopf. Schlafen würde er jetzt nicht können, so zog er sich wieder an und wanderte die ausgestorbenen Straßen von Pierrelatte entlang. Er hatte doch ganz genau gesehen, dass der alte Mann tot war, bevor er ihm in den Herault gerutscht war. Irgendjemand trieb hier ein Spiel mit ihm, nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, was für eins.
Zwei Stunden lang zermarterte Giscard sich das Hirn, bis er merkte, dass seine Gedanken immer wieder im Kreise liefen. Um 1 Uhr ging er schließlich nach Hause und legte sich ins Bett, zweifelnd, ob er überhaupt schlafen könne. Doch war er so müde geworden, dass er bald einschlief. Im Traum sah er wieder das Gesicht des alten Mannes vor sich, doch jetzt wechselte es in das von Natalie über. Das sah er als Zeichen an. Noch in der Nacht setzte er sich an den Laptop und schickte eine Mail an sie, dass er sich noch gerne an den Tag mit ihr erinnere und die Verbindung aufrechterhalten wolle. Dann schlief er weiter. Doch als er spät am Morgen nach dem Frühstück seine Mailbox aufrief, war die Mail als unzustellbar zurückgekommen. Entweder hatte Natalie ihm eine falsche Adresse gegeben oder er hatte sie falsch notiert.
Im Internet wählte Giscard das Branchentelefonbuch von Lyon an und schaute unter den Boutiquen nach den Namen der Inhaber. Leider fehlten bei den meisten der über 200 Läden die Vornamen. Wo sie angegeben waren, handelte es sich fast ausschließlich um Frauen, doch eine Natalie war nicht darunter. Fast zweifelte er, dass sie ihren Beruf richtig angegeben hatte. Er sah sich die E-Mail-Adresse auf der Serviette noch einmal genau an: las er. Kein Familienname aber anscheinend ihr Geburtsdatum vor dem @. Und das hatte er wohl falsch geschrieben. Auch er hatte seinen Account bei dem Netzanbieter Wanadoo und fragte jetzt per Mail den Administrator, ob dort eine ähnliche Adresse vorhanden sei. Doch bald hatte er die Antwort, dass aus Datenschutzgründen keine Auskünfte über Adressen erteilt würden. Giscard sah sich die Adresse noch einmal an. Ein Zahlendreher konnte höchstens beim Tag vorliegen. Er versuchte es mit einer 12 hinter dem Punkt, doch auch diese Mail kam als unzustellbar zurück. Er änderte das Jahr in 77 und 78, wieder ohne Erfolg.
Was könnte er noch tun? Heute war nicht mehr viel zu machen, morgen hatte er noch frei und am Mittwoch würde die siebentägige Spätschicht beginnen. Sollte er morgen nach Lyon fahren und die Boutiquen durchkämmen? Das war an einem Tag überhaupt nicht möglich, er musste es auf die nächste Freizeit verschieben. Die war ja drei Tage lang, fiel ihm dabei ein. Und er könnte vorher vielleicht noch weitere Informationen gewinnen.
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