Marianne Rauch
Träum süß stirb schnell
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Inhaltsverzeichnis
Titel Marianne Rauch Träum süß stirb schnell Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Über die Autorin
Bisher veröffentlicht
Impressum neobooks
Papier ist geduldig.
Auch Mutter Erde lässt sich Einiges gefallen. Wird vergewaltigt, beschmutzt und entehrt, um sich anschließend unermüdlich die Wunden zu lecken.
Wer sieht beispielsweise dem brandenburgischen Wünsdorf an, welche Berge von Kampfmittel, Munition, Chemikalien, Altöl sowie Asbestabfall die sowjetischen Truppen beim Abzug aus dem ehemaligen Sperrgebiet zurückließen? Berliner Ausflügler, die nach dem Mauerfall nach Brandenburg strömten, als gäbe es dort etwas umsonst, sicherlich nicht.
Wer sollte es ihnen verübeln? Endlich durfte man durch die einstige geheimnisvolle sowjetische Zone streifen. Kaum jemand hätte jemals vermutet, dass das amtliche Tabu heute der Vergangenheit angehört. Ebenso wie Stacheldraht, Grenzstreifen und DDR-Wachposten. Die alten verwitterten Warnschilder rund um die verbotene Stadt haben ausgedient.
Desgleichen die Sowjets, Entschuldigung, jetzt sind es ja die Russen. Sie überließen Wünsdorf nach Jahrzehnten der militärischen Nutzung wieder den Einwohnern, zogen 1994 ab und kehrten zurück in die Heimat. Fernab dieser militärgeschichtlich interessanten Stadt, immerhin befand sich dort das Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte, passierte Frau Dr. Neuenhagen den inzwischen kaum noch zu erkennenden Berliner Grenzstreifen. Hier säumten weder parkende Autos noch viereckige Hochhäuser die Straßenränder, sondern allenfalls Sträucher, Wälder und Wiesen. Deren Anblick dämpfte gewöhnlich den morgendlichen Stresspegel der Ärztin, während sie auf der B96 die gut 50 Kilometer zur Klinik zurücklegte.
Während sie bei strömenden Regen über einige typische Sonntagsfahrer hinter den Lenkrädern schmunzelte, preschte die Ärztin über die nasse brandenburgische Landstraße. Die Scheibenwischer rutschten seit Berlin mit Höchstgeschwindigkeit über die Frontscheibe und begrenzten gemeinsam mit klatschenden Regentropfen die Sicht.
Wer hat ausgerechnet für heute das Meeting so früh angesetzt?
Verärgert drosselte die Spezialistin für psychische Erkrankungen vor der kommenden Abfahrt die Geschwindigkeit, um nicht wie damals bei ihrer ersten Anfahrt zu dem Anwesen aus der Kurve getragen zu werden. Den Moment dieser Schrecksekunden durchlebte sie jedes Mal, ebenso wie das überwältigende Gefühl beim Anblick der prächtigen Villa, die sich hinter wildromantischen Kiefern versteckte.
Dort ließ sich die Ärztin Anfang des Jahres mit eigenen Praxisräumen nieder. In der Stille und Abgeschiedenheit dieses Anwesens, welchem die Sterilität einer Universitätsklinik völlig fehlte, lagen die Kraft und Stärke, die für einen positiven Behandlungserfolg unerlässlich sind. Fernab des Straßenverkehrs mit seinem tosenden Autolärm, inmitten hoher Birken und Kiefern, schien das reale, alltäglich pulsierende Leben nicht zu existieren.
Die Krankenzimmer der Klinik glänzten ebenso stilvoll wie das prächtige Bauwerk selbst. Yakido Schwarz, und mit ihr alle anderen Patienten des Hauses, sollten sich rundum wohlfühlen. Dafür sorgten nicht nur die modern eingerichteten Zimmer, sondern vor allem die erfahrenen Ärzte, Schwestern, Therapeuten und Pfleger. Der gute Ruf der Klinik eilte bis weit über Berlin hinaus.
Die jedoch düstere Vergangenheit der außergewöhnlichen Gründerzeitvilla verblasste angesichts ihrer gegenwärtigen Bestimmung, nämlich ein Ort der Fürsorge, Heilung sowie Rettung für Suizid gefährdete Menschen zu sein.
Den ehemaligen Besitzern indes wurde jegliche Rettung verwehrt. Sie teilten das gleiche Schicksal wie Millionen andere Juden, die von den Nazis zur Vernichtung in Konzentrationslager verschleppt wurden.
Doch nichts erinnerte mehr an tragische Ereignisse in diesem alten Gemäuer. Die undurchdringlichen Steinmauern bewahrten die dunklen Geheimnisse.
*
Yakido erholte sich erstaunlich schnell. Nach einigen Wochen intensiver Therapie- und Gesprächsstunden mit Frau Dr. Neuenhagen kehrte ihre innere Stärke zurück. Einzig die Narben an ihren Handgelenken markierten das unselige Tief, in welchem sie den Freitod suchte.
Inzwischen wechselten die Jahreszeiten. Der Herbst verdrängte unaufhaltsam den vorangegangenen ebenso schwül warmen wie regenreichen Hochsommer.
Langsam stieg Yakido die breiten Steinstufen der Treppe hinab. Der erste Streifzug durch die Grünanlagen des Klinikgeländes, allein und ohne Larissa, die sie sonst auf ihren Spaziergängen begleitete. Dabei haftete die Pflegerin wie ein monströser Schatten an der Patientin und nährte damit deren Widerwillen gegen die ständige Kontrolle.
Yakido sog die milde Herbstluft ein, fühlte sich frei wie ein Vogel. Larissa, wachsam und geschäftig wie immer, lief ihr gerade über den Weg. Mit gemischten Gefühlen blickte diese ihr hinterher.
„Wenn das mal gut geht“, murmelte sie besorgt in sich hinein.
„Aber wenn Frau Doktor meint.“
Kopfschüttelnd, womit die Pflegerin deutlich die Entscheidung der leitenden Psychologin missbilligte, fegte die gute Seele das erste Herbstlaub von den Stufen.
Ein selten erlebtes Glücksgefühl erheiterte Yakido. Niemand, der in ihrer Nähe lauerte, auf jede Bewegung, auf jedes unbedachte Wort achtete, um darüber zu protokollieren und ihre Krankenakte zu füllen. Sie fühlte sich wohl, ja, fast glücklich.
Die Blätter der Bäume rauschten im Wind. Bunte Kieselsteine knirschten unter ihren Schritten. Dem mit Mosaiksteinen gepflasterten Vorplatz der Klinik schenkte sie keine Beachtung. Stühle standen dort bereit; man nutzte offensichtlich den milden Herbsttag für eine Gruppentherapie im Freien.
Wie sehr Yakido diese Gesprächsrunden verabscheute!
Die frische Luft kühlte ihren Verstand. Die Sitzbank am Rande der großen Wiese, die Bäume im Rücken, den Teich vor Augen, zählte inzwischen zu Yakidos Lieblingsplätzen. Ideal, um kurze Freiheiten zu genießen, dabei die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages einzufangen sowie ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.
Fast wäre es ihr sogar gelungen, wäre sie nicht unerwartet gestört worden.
„Was tust du da?“, fragte die Spaziergängerin das Mädchen, welches unvermittelt vor ihr auftauchte.
Provozierend warf das Kind grobe Schottersteine vor Yakidos Füße. Lauernd sah es die Fremde an, wobei es bereits zum nächsten Wurf ansetzte. Aufsässig griff das Kind mit der rechten Hand in die linke, packte den restlichen Schotter und schleuderte alles zusammen in das Naturgewässer. Doch zuvor hielt es inne, um Yakido ausdruckslos anzustarren.
Sekunden, die Yakido wie schleichende Minuten erschienen, erwiderte die Patientin den Blick, hielt diesen durchdringenden, stumpfen Augen stand. Wer war dieses Mädchen, woher kam sie? Weit und breit konnte sie niemanden entdecken, zu dem es hätte gehören können. Wie alt mochte es gewesen sein? Zwölf oder dreizehn vielleicht?
Bevor Yakido auch nur ein weiteres Wort heraus brachte, begann das Mädchen zu lachen. Gleichzeitig rannte es davon. Lange sah Yakido ihr nach, doch schien sich ihre Gestalt aufzulösen, wie von Geisterhand zu verschwinden.
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