Wutentbrannt drehte Yakido Fischer den Rücken zu, während sie hastig zum Ausgang eilte.
Larissa, die sich mit gemischten Gefühlen, dabei nichts Gutes ahnend, in der Nähe der Patientin aufhielt, stürmte herbei. Energisch bedeutete sie dem Besucher, zu gehen. Sie ergriff Yakido am Arm.
„Kommen Sie, Frau Schwarz. Beruhigen Sie sich. Herr Fischer wird unser Haus wieder verlassen und Sie nicht weiter belästigen. Das verspreche ich Ihnen.“
Entschlossen schob sie Yakido in den Flur und begleitete sie zu ihrem Zimmer.
„Hier, nehmen Sie das. Das wird Sie beruhigen und Sie werden ein wenig schlafen.“
Larissa reichte ihrem Schützling eine Beruhigungstablette. Danach schob sie einen Stuhl im Zimmer zurecht, klopfte auf das Sitzkissen und bedeutete der Patientin, sich dort nieder zu lassen. Yakido nahm Platz. Widerwillig schluckte sie die weiße Pille.
„Das wird schon wieder, Frau Schwarz“
Die Pflegerin tätschelte vertraulich Yakidos Arm.
„Ich muss wieder weiter, habe noch mehr Schäfchen, die ich hüten muss!“
Sie zwinkerte mit den Augen, was ihrem kantigen Gesicht einen spitzbübischen Ausdruck verlieh.
„Ich werde Sie nun allein lassen. Wenn Sie mich brauchen, Sie wissen ja, wo Sie drücken müssen!“
Lächelnd verließ die gute Seele das Zimmer, zeigte gleichzeitig auf den Klingelknopf neben dem Lichtschalter und zog die Tür hinter sich zu. Zur Kontrolle blieb sie noch einen Moment auf dem Flur stehen, horchte angestrengt an der Zimmertür.
Stille erfüllte den Raum, welcher Yakido nun seit einiger Zeit anstelle der kärglichen Wohnung in der Stadtrandsiedlung ein mehr oder weniger gemütliches Domizil bot.
Yakido gab keinen Laut von sich. Bewegungslos blieb sie auf dem Stuhl sitzen, wohl wissend, dass Larissa noch horchend vor der Tür stehen würde.
Jetzt nur nicht weiter auffallen! Ganz ruhig bleiben.
Die Wirkung der Tablette ließ Yakido gleichmütig werden, weshalb sie sich ohnehin allmählich beruhigt hatte. Bedächtig wartete sie, bis sich Larissa von der Zimmertür entfernt hatte. Sie steuerte die weiße Kommode an, die sich der Klinikeinrichtung perfekt anpasste, und zog die oberste Schublade auf.
Unter bunten Tüchern lugte ein Foto hervor, das einzige, welches sie damals mitnehmen konnte. Es zeigte ein lächelndes Mädchen auf dem Schoß der Mutter sitzend. Ein unbeschwertes Kind, inmitten einer trügerischen Friedlichkeit nebst Harmonie. Ein falsches Zeugnis der Vergangenheit.
„Das bin ich nicht“, hörte sie sich flüstern.
„Das bin nicht ich.“
Vorsichtig verstaute sie das Erinnerungsstück wieder in der Schublade. Müde sank sie auf das Bett. Die Aufregung des Tages hinterließ ihre Spuren. Die Beruhigungstablette tat das Übrige.
Yakido sehnte sich nach todesähnlichem Schlaf, der ihre Erinnerungen für immer aus ihrem Gedächtnis löscht. Bleischwer senkten sich ihre Lider, doch ihre Augen blieben nicht von ihnen bedeckt. Ein nervöses Flimmern hielt sie wach.
„Okay, du verhasster Dämon. Komm, schlag zu. Führen wir unsere eigene Therapie durch. Lass uns spielen, quäle mich. Spielen wir Vergangenheit. Ich halte dich aus, du verdammter Teufel!“
Sie straffte ihre Muskeln und begann, sich zu konzentrieren. Yakido schärfte ihr Bewusstsein, versuchte, sich eines der verhassten Erlebnisse ins Gedächtnis zu rufen. Begierig, die einstige Qual erneut zu durchleben. Wohin würde der Dämon sie führen, wenn nicht wieder in die Enge der kalten, feuchten Wohnung? Der muffige Geruch der Möbel und Gardinen stieg ihr bereits in die Nase.
„Komm schon, lass mich nicht so lange warten!“
Endlich fiel Yakido in einen anderen Bewusstseinszustand, ähnlich wie der in Trance. Mit aller Anstrengung versetzte sie sich in die damaligen Handlungsabläufe, bewegte sich in ihnen, als führte sie Regie. Sie befand sich wieder in ihrem Mädchenzimmer, fernab in Hamburg, an dem Ort, den sie seit Kindertagen zu hassen lernte.
Vertrautheit empfing Yakido. Hier kannte sie sich aus; es hatte sich nichts im Raum verändert. Ihr Atem wurde flacher. Der Dämon lotste ihre Erinnerungen in eine Zeit, in der sie ein junges Mädchen war. Älter als damals, als sie zu dem fremden Mann, dem Onkel, ins Bett schlüpfen musste. Ihr Körper begann gerade zart zu erblühen, ihr Busen drückte sich leicht unter dem Pulli durch.
Yakido saß zur vorgerückten Stunde allein in ihrem Zimmer. Unter dem fahlen Licht der Schreibtischlampe stapelten sich mit feiner Handschrift verfasste Notizen, die sie an diesem Abend angefertigt hatte. Plötzlich wurde die Zimmertür heftig aufgerissen. Völlig verstört stürzte ihre Mutter herein. Schlecht gelaunt und in ihren Überlegungen gestört, blickte Yakido auf.
„Mama, lass mich heute Abend. Ich muss noch für die Schule büffeln. Wir schreiben morgen einen Test, den will ich nicht versauen.“
„Yakido!“, stieß ihre Mutter hervor.
Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.
„Mama! Bitte, schaffst du es diesmal nicht allein?“, fauchte das Mädchen.
„Außerdem habe ich meine Tage, ich kann sowieso nicht!“
„Komm rüber, es ist was passiert!“
Kreidebleich stand die Mutter im Türrahmen. Die schöne, elegante Frau, sie, die sonst ruhig, professionell und eiskalt die Männer abservierte, war völlig aus der Fassung geraten.
Yakido begriff sofort, dass etwas nicht stimmte. Derart aufgeregt und kopflos hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt. Im Gegenteil. Annabells immer wieder auftretende eisige Kühle und Besonnenheit löste selbst bei Yakido oft Unbehagen aus.
Gemeinsam eilten sie nun in das Nebenzimmer. Wie immer verströmten Kerzen ein schummriges Licht und es roch nach Alkohol, Schweiß und Sperma. Auf dem Bett lag ein nächtlicher Besucher. Ausgestreckt, auf dem Bauch, den Kopf im Kissen vergraben, hing der rechte Arm merkwürdig schlaff über der Bettkante.
„Oh Gott, was ist hier los?“, schrie Yakido nach der ersten Schrecksekunde.
Der Anblick des reglosen Mannes jagte dem Mädchen einen Schauer über den Rücken.
„Ich glaube, der ist tot!“, flüsterte Annabell.
„Der ist tot. Beim Vögeln einfach ausgelöscht!“
Sie lachte zynisch.
„Was kann schöner sein...?“
„Aber wie..., was hast du gemacht?“
Yakido zitterte am ganzen Leib.
„Nichts! Nichts habe ich gemacht! Alles war okay. Es hat ihm ordentlich Spaß bereitet. Plötzlich begann er zu röcheln, hob seinen Kopf und schnappte nach Luft. Dann sackte er in sich zusammen. Blieb auf mir liegen, schwer wie Blei. Kostete mich alle Kraft, mich von dem alten Sack zu befreien.“
Beide standen im Raum und starrten fassungslos auf den leblosen Körper. Ein unansehnlicher Mann, Mitte fünfzig, mit einem dicken Bierbauch und weißer, dünner Haut.
„Guck mal, Mama. Der hat noch seine Socken an.“
„Oh Gott!“
Panik beschlich Annabell. Allmählich begriff sie die Tragweite der Situation. Hier lag ein toter Mann in ihrem Bett, dessen Namen sie nicht einmal kannte. Ein anderer Stammgast prahlte dem unbekannten Freier gegenüber mit Annabells Liebesdiensten. Derart aufgeheizt, führte ihn seine Geilheit noch direkt in dieser Nacht zu ihr.
„Seine Frau wird ihn vermissen. Schon vor einer guten Stunde hätte er sie beinahe angerufen.“
Verächtlich zeigte sie mit ihrem Kopf in seine Richtung.
„Der Idiot wollte doch glatt mein Telefon benutzen, als ich kurz im Bad war. Typisch Mann. Wenn es da unten juckt, setzt der Verstand aus.“
„Wir müssen ihn loswerden, Mama. Der muss hier weg. Wie willst du erklären, was hier passiert ist?“
„Du hast Recht. Aber wie? Was sollen wir jetzt nur machen? Ich kann ihn ja nicht im Klosett herunter spülen.“
Sie blickte sich um, suchte nach einer Möglichkeit, den unliebsamen Gast zu beseitigen.
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