Derweil in einer Stadtrandsiedlung von Berlin. Immer wieder stellte sich Bernd Fischer die gleiche Frage: Welches Schicksal trieb die geheimnisvolle Unbekannte dazu, sich die Pulsadern aufzuschneiden?
Seit er die Mitbewohnerin aus dem achten Stock regungslos in der Badewanne fand, ging ihm die Unglückliche nicht mehr aus dem Kopf. Bei den wenigen zufälligen Begegnungen, meistens im Fahrstuhl, weckte sie jedes Mal sein Interesse. Gegen seinen Willen. Er wunderte sich selbst darüber, denn die Frau tat eigentlich nichts, was ihn dazu veranlasst hätte. Außer, ihn absolut zurückhaltend, mit einem kurzen, flüchtigen Lächeln zu bedenken. Es ärgerte ihn, doch trotzdem reichte dieses Lächeln aus, um ihn für Augenblicke zu verzücken. Nie hätte er gewagt, sie anzusprechen.
Von der Damenwelt hielt er sich fern, lehnte weiblichen Kontakt kategorisch ab. Fischer hatte genug mit sich selbst zu tun. Er fokussierte sich auf sein Leben. Es bescherte ihm die Aufgabe, sich nach der Scheidung neu zu ordnen, mental und finanziell wieder auf die Beine zu kommen und seine innere Balance wiederzufinden. Frauen hätten dabei nur gestört, so viel war klar.
Deshalb wählte der Versicherungsfachmann die Einsamkeit inmitten einer menschenfressenden Anonymität, hinter der sich Großstädte wie Berlin so gern verstecken. Trabantensiedlungen, Molochs des sozialen Wohnungsbaus wie in Marzahn, das Märkische Viertel oder die Gropiusstadt.
Rückblicke in Baukünste vergangener Jahrzehnte, deren Hochhäuser potenzielle Selbstmörder anlocken. Wie Ikarus durch die Lüfte schweben. Daraus wird allerdings nichts, wenn man vom zehnten Stock wie ein nasser Sack in die Tiefe stürzt.
Er fühlte sich wohl, so völlig zurückgezogen am Stadtrand zu leben.
So wie Yakido.
Seit Wochen drängte es Fischer, sie, deren Leben er rettete, zu besuchen.
Fischer setzte seine Überredungskünste ein, denn er wollte unbedingt erfahren, wohin der Ambulanzwagen die Hoffnungslose brachte. Nach etlichen Telefonaten erhielt er endlich die ersehnte Auskunft: die Adresse der Klinik.
Er fühlte sich unsicher, ob bereits der richtige Zeitpunkt dafür gekommen wäre. War sie soweit über den Berg, um Besuch von ihm, einem Fremden, zu empfangen? Wie würde sie auf ihn reagieren?
Fischer verspürte ein Ziehen in der Magengegend. Er wusste genau, weshalb er die Unbekannte mit dem sanften Lächeln nie angesprochen hatte. Diese Frau strahlte auf ihn etwas aus, was ihm hätte gefährlich werden können.
In Yakidos Zimmer läutete das Haustelefon. Sie erschrak. Augenblicklich riss sie den Hörer von der Gabel.
„Ja bitte?“
„Hier ist Larissa. Frau Schwarz, für Sie hat sich Besuch angekündigt. Gegen 16.00 Uhr möchte Sie ein Mitbewohner aus Berlin beehren.“
„Mitbewohner aus Berlin?“, wunderte sich Yakido.
„Wer soll denn das sein?“
„Na, der Herr Fischer! Der Mann, der den Notarzt rief. Er sagt, Sie würden ihn kennen.“
Yakido vermochte sich nicht an einen Mitbewohner Namens Fischer zu erinnern. Auch an keine anderen Nachbarn aus dem Wohnhaus. Wie auch? Sie suchte keinen Kontakt zur Außenwelt, verließ die Wohnung nur selten.
Allein in dieser fremden Stadt, in einem anonymen Hochhauskomplex, fixierte sie sich einzig auf diesen einen Mann an ihrer Seite. Sie klammerte sich an ihn wie eine Klette. Nur, weil er ihr eine vermeintliche Zukunft versprach. So lange, bis er Yakido wegwarf wie einen alten Wischlappen.
„Was will er?“
Yakidos abweisende Stimme war nicht zu überhören. Larissa zuckte instinktiv mit den Schultern, dabei sprach sie weiter ins Telefon.
„Sie einfach nur besuchen. Einen netten Nachmittag mit Ihnen verbringen. Weiter nichts!“
Larissa verstand die Abneigung der Patientin nicht. In einem sanfteren Ton als bisher fügte sie hinzu:
„Nun freuen Sie sich doch! Für heute ist leider Regen angesagt, sonst hätte ich Ihnen einen Spaziergang im Park vorgeschlagen.“
„Und nun, wohin soll ich anstatt dessen mit diesem Herrn Fischer gehen?“
„Was halten Sie denn von unserer Cafeteria? Wir servieren dort einen herrlichen Latte Macchiato!“
„Wie Sie meinen. Danke Larissa. Das ist eine gute Idee.“
Yakido legte auf. Der Blick in den Spiegel zeigte ein aschgraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen. Hastig kniff sie sich in ihre Wangen, um keinen farblosen Eindruck zu hinterlassen. Aus der Schublade der Kommode fingerte sie ein schwarzes Band aus Samt hervor, um das lange Haar zu einem Zopf zu binden.
Yakido wählte einen Tisch in Fensternähe. Dort saß sie bereits, als Bernd Fischer die in einem freundlichen hellbeige eingerichtete Cafeteria betrat. Er blieb ein wenig orientierungslos am Eingang stehen, blickte sich suchend um. Sobald er Yakido entdeckte, steuerte er zielstrebig auf sie zu. Hinter dem Rücken verbarg er einen kleinen Strauß gelber Herbstastern.
„Frau Schwarz?“, sprach er sie zögernd an.
Yakido starrte aus dem Fenster, beobachtete die Regentropfen, die klatschend gegen die Fensterscheiben prasselten. Nun drehte sie sich langsam um, behutsam darauf bedacht, ihre Abneigung gegen diesen Nachmittagsbesuch zu verbergen. Beim Anblick Fischers rasten augenblicklich ihre Gedanken, suchten in ihrem Erinnerungsvermögen.
Wo habe ich diesen Mann schon mal gesehen?
Fischer schien ihre Gedanken zu erraten.
„Wir sind uns einige Male im Fahrstuhl begegnet. Erinnern Sie sich an mich?“
Fischer erschrak über die blasse, wie durchsichtiges Seidenpapier scheinende Haut, die Yakidos Wangen bedeckte. Vielmehr jedoch über ihren stumpfen Blick, der mit leeren Augen auf ihm ruhte.
„Ja, ich erinnere mich“, erwiderte sie leise.
„Was wollen Sie hier?“
„Darf ich Platz nehmen?“
Er blieb weiterhin höflich, ihre Teilnahmslosigkeit irritierte ihn jedoch.
„Ich habe für uns einen Latte Macchiato bestellt. Die Schwester sagte mir, der wäre sehr lecker und Sie würden dieses Getränk mögen.“
Pause. Betretene Stille. Yakido sagte kein Wort, sah Fischer nur ausdruckslos an. Er fühlte sich unbehaglich, wusste nicht, wie er einen Zugang zu dieser Frau finden sollte. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, ein Gespräch zu beginnen. Zur Überbrückung reichte er ihr den Blumenstrauß.
„Danke“, entgegnete sie matt.
„Die sind schön.“
Gemeinsam tranken sie ihren Kaffee. Sie schwiegen. Tausend Worte kreisten durch Fischers Gehirn. Tausend Worte, die er ihr gern sagen wollte. Dann endlich brach es aus ihm heraus.
„Wer hat Ihnen das angetan?“
„Wer hat mir was angetan? Was meinen Sie? Was soll das?“
Yakido verstärkte sofort ihre Abwehrhaltung. Sie fühlte sich von der direkten und völlig unerwarteten Frage regelrecht bedroht.
„Warum wollten Sie nicht mehr leben?“
Yakido erstarrte. Niemand besaß das Recht, in ihrem Leben zu wühlen, geschweige eine Rechtfertigung von ihr zu erhalten. Was bildete sich dieser Kerl ein?
„Was geht Sie das an? Was verdammt geht Sie das an?“
Yakido verlor die Beherrschung. Ihre Stimme wurde lauter. Fischer stocherte in ihrem wunden Punkt herum. Sie begann zu schreien.
„Was wollen Sie von mir? Spazieren hier einfach so herein und fragen mich, warum ich nicht mehr leben wollte? Das geht Sie verdammt noch mal einen Scheißdreck an! Verschwinden Sie, ich will Sie hier nicht mehr sehen. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist! Lassen Sie mich in Ruhe!“ Yakidos Stimme überschlug sich, sie war außer sich vor Wut. Ruckartig stand sie auf, dabei kippte der Stuhl nach hinten und polterte auf den Boden. Die übrigen Gäste der Cafeteria wohnten entgeistert dem Geschehen bei, einige wurden bereits unruhig.
„Hauen Sie endlich ab! Verschwinden Sie!“
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