Yakido spürte, wie Ärger in ihr hochkroch und versuchte, den Vorfall zu verdrängen. Und doch hämmerte die Erinnerung an das mädchenhafte Gesicht mit den stummen Augen in ihrem Kopf.
Warum starrte dieses Kind die ihr fremde Frau so unverblümt an? Was hatte es gesehen? Konnte es in deren Seele schauen, etwa bis auf den Abgrund ihres Herzens?
Die Stille an diesem friedlichen Herbsttag dröhnte Yakido plötzlich in den Ohren. Gedankenverloren blieb sie noch eine Weile sitzen. Sie fühlte sich seltsam ertappt, wie bei einer Lüge erwischt. Spürte das unsinnige Bedürfnis, sich über ihr Dasein zu rechtfertigen.
Doch warum? Waren nicht alle Fäden vorbestimmt, an denen ein anderer zog? Oder war sie nur zu schwach, ihr Leben, das für sie so enttäuschend begann, selbst in die Hand zu nehmen? Es in eine andere Richtung zu lenken?
Egal, auf der Sonnenseite stehen sowieso immer nur die anderen.
Solange Yakido sich erinnerte, schob sie Unangenehmes in das Sicherheitssystem ihres Gehirns. Es funktionierte ausgezeichnet. Ihr imaginärer Kippschalter blendete die schlechten Erlebnisse aus. Keine undichten Stellen, durch die sich mühselig Verdrängtes aus dem Dunkeln in ihr Bewusstsein einnisten konnte. Oder mutierte ihre scheinbar perfekte Taktik zum hinterhältigen Missbrauch als Speicherchip? Ahnte sie nicht, welch böse Saat gesät, welch teuflische Früchte sie einst ernten würde?
Gefühl entwickelte sich für Yakido zum Fremdwort, zu einem Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Auf Emotionen hereinzufallen, auch wenn sie noch so echt erscheinen mochten, wäre ein fataler Fehler gewesen.
Nun reichte ein kurzer Moment aus, ihr sorgfältig unter Verschluss gehaltenes Sicherheitssystem ins Wanken zu bringen.
Niemanden gewährte Yakido Einblick in ihre Seele. Dem Mädchen nicht, den Freiern nicht und erst recht nicht dieser Frau Doktor, die Psychologin. Das sind die Schlimmsten! Die sind doch alle gleich, meinen, sie könnten in Menschen wie in einem offenen Buch lesen, sie analysieren, um dann zu sagen, was gut oder schlecht ist. Wer will das schon wissen!
Nein. Yakido gehörte sich selbst!
„Die Männer lieben mit dem Schwanz“.
Seit Yakido denken konnte, redete ihre Mutter ihr diesen Satz ein. Resigniert, verbittert, mit Zorn in der Stimme.
„Und gutes Essen. Dann geben sie dir alles, was sie haben. Also mein Engelchen, mach die Beine hübsch breit und hauch den Herren Liebe ins Ohr. Yakido, glaube mir, einfacher kannst du nicht für dich sorgen.“
Eine gut gemeinte Empfehlung, die sie der Tochter eindringlich ans Herz legte.
„Männer sind so einfach gestrickt. Solange sie sich im Bett richtig austoben können, sind sie wie kleine Jungs, die ihr Lieblingsspielzeug bekommen. Du musst nur höllisch aufpassen, dass du nicht dein Herz an so einen Kerl verlierst.“
Oh ja, wie recht sie hatte! Den Rat nahm die Tochter an; schließlich hatte sie nichts anderes vom mütterlichen Vorbild gelernt. Hätte es eine andere Chance für Yakido gegeben?
Chancen sind wie Sonnenaufgänge, wer zu lange wartet, verpasst sie.
Wo hatte Yakido diese Weisheit gelesen? Wie auch immer. Sie musste für sich sorgen, also machte Yakido die Beine breit. Darin war sie eine Meisterin.
*
Rückblende. Hamburg 1969.
Im mittlerweile beliebten Stadtteil Tonndorf kehrte abendliche Ruhe ein. Yakido wälzte sich auf der Matratze hin und her. Das Gewitter war vorüber gezogen. Die kindliche Angst vor dem krachenden Donnern der aufeinanderprallenden Luftströme wich allmählich dem Schlaf.
Aufgeschreckt durch Geräusche aus dem Nebenzimmer, verkroch sich Yakido unter der Bettdecke. Doch dann erkannte sie die warme, sanfte Stimme der Mutter. Beruhigt kuschelte sich das Mädchen wieder in ihr warmes Nest, zog den kleinen abgewetzten Teddybär dicht an ihre Brust. Sogleich schlief sie erneut ein. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des schlafenden Kindes, denn es träumte von der wunderschönen Mutter. Fühlte, wie sie sich herunter beugte, um der Tochter einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Dabei die langen, dunklen Haare Yakidos Gesicht streiften. Die Mutter lachte und flüsterte:
„Kitzeln die Feenhaare mein kleines Engelchen?“
Der sintflutartig einsetzende Regen löste das gigantische Feuerwerk am nachtschwarzen Himmel ab. Zuckende Blitze, die die Dächer für Sekunden gespenstisch hell erleuchteten, kündigten mit ihren langen weißen, wie elektrische Fäden schimmernde Strahlen, den unausweichlich darauf folgenden, sich mit gewaltiger Wucht entladenden Donner an. Wahre Sturzbäche fielen anschließend aus den Wolken, um die Stadt innerhalb kurzer Zeit mit Wassermassen zu überfluten.
Sirenen ertönten, die Feuerwehr rückte mehr als zweihundert mal in dieser Nacht aus, um vollgelaufene Keller auszupumpen und Straßen vom herabgefallenen Geäst zu befreien. Nach einer Stunde endete der Spuk. Nun prasselten die Regentropfen nur noch leicht gegen die Fensterscheiben, als wollten sie mit ihrem regelmäßigen und behutsamen Tröpfeln den vorangegangenen Wolkenbruch entschuldigen.
Es war kühl in der Wohnung. Feucht und kühl. Wie oft schon hatte Yakidos Mutter den Hausmeister auf die undichten Fenster hingewiesen. Er aber grinste nur jederzeit und schnalzte mit der Zunge. „Ja, Annabell, meine Schöne, was machen wir denn da?“, schien seine Standardantwort zu sein.
Stets glitt dabei sein Blick über den schlanken Körper der Mutter, blieb sekundenlang an ihr haften. Seine Gedanken erratend, zupfte Annabell wie zufällig ihre Bluse über den Brüsten zurecht. Irgendwann würde er ihr keinen Wunsch mehr abschlagen können, es war nur noch eine Frage der Zeit.
Der Regen klopfte nun unaufhörlich an die Scheiben. In dem kleinen Zimmer neben Yakidos Schlafzimmer ertönte leise Musik der Fünfziger und Sechziger, alles bekannte Titel dieser Zeit. Yakidos Mutter überließ nichts dem Zufall, so wie immer. Die Kerzen verströmten ihr gedämpftes Licht, während Annabell die Gläser mit Wodka füllte.
„Trink, mein süßer Kavalier. Auf unsere aufregende Nacht!“
„Zum Wohl!“
Er kippte den Hochprozentigen hastig hinunter, wobei Annabell ihn nicht aus den Augen ließ.
„Es wird eine aufregende Nacht, Annabell. Komm Bella, setz dich ganz dicht neben mich, ich will deinen Atem spüren, will dein Haar riechen.“
Sie hasste die Art, wie er Bella aussprach.
„Mehr nicht?“, hauchte sie verführerisch.
Dabei stimulierte sie mit der Zunge seine Ohrmuschel. Ihre Hand glitt unter sein Hemd auf die nackte Brust.
„Ich will mehr, Süße. Du weißt, dass ich von dir nicht genug kriegen kann!“
Seine Augen glänzten, hatten bereits diesen gewissen Blick.
„Lass uns noch einen nehmen! Ich mag es, wenn du so leicht betrunken bist. Dann bist du widerspenstig wie ein kleines Raubtier.“
Seine Hand wurde fordernd, fuhr vom Knie über ihre Schenkel unter ihren Rock.
Es geht schon los, dachte Annabell. Er kommt in Fahrt, denkt nur noch mit dem Schwanz. Sie begann, ihn zu küssen. Ihre Zunge glitt über seine Lippen, gleichzeitig öffnete sie langsam die Knöpfe seines Hemdes.
„Mach weiter, du kleines Weib“, hauchte er erregt.
„Komm und zeig mir, was du am Körper trägst.“
Seine Hände wurden noch fordernder. Gierig schob er ihren Rock hoch und umklammerte fest ihre Schenkel.
„Was hast du an?“, keuchte er.
„Das kleine Schwarze, diesen kleinen Fetzen Stoff?“
Lüstern schob er die Träger ihres knappen Oberteils zur Seite.
„Zeig mir endlich deine geilen Titten!“
Sein anzügliches Lachen klang abstoßend und ekelhaft zugleich. Annabell ergriff seine Hände, führte sie zu ihren Lippen.
„Wo bleibt dein gutes Benehmen“, neckte sie ihn.
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