Wenige Meter weiter kreuzte ihn wieder etwas zwischen seinen Beinen. Als er abermals zurückwich, tippelte es erneut vorbei. Nach einer kurzen Zeit wieder. Und wieder und wieder und wieder. Es entstand eine kleine Staubwolke auf dem trockenen Pfad. Eine feine, piepsige Stimme drang an seine Ohren.
»Hallo, Znarf!«
Franz weitete die Augen. Wer? Znarf? Wer soll Znarf sein?, fragte er sich.
»Na, na. Nicht so schüchtern, lieber Znarf«, fuhr das Stimmchen fort.
Allmählich legte sich die Staubwolke und Franz erkannte ein kleines, nacktes Tierchen. Es hatte ungefähr die Größe einer Ratte, besaß jedoch kein Fell. Seine Augen wurden von einer großen Fettschicht überdeckt, die in einen schmalen Rüssel überging. Es stand auf vier dünnen Beinen mit hühnergleichen Füßchen und hatte obenauf zwei kleine Flügel, ähnlich einer Stubenfliege. Die nackte Haut war rosa-grau.
»Hallihallo, mein lieber Zarf. Warum denn nur so schreckhaft? Bin doch klein und fein. Was soll ich schon tun gegen dich so großen Mann?«
Franz fand langsam wieder zu seiner Sprache. »Was bist du? Und warum sagst du meinen Namen falsch herum?«
»Doofe Fragen, dumme Fragen. Sinnlos! Was geht nur in dir vor?«
»Nichts ist dumm. Macht es dir Spaß, mich zu beleidigen? Das find ich unerhört. Wo bin ich hier? Es ist so kalt, so grau. Noch grauer als die Wirklichkeit.«
Das kleine Wesen erhob sich und flog um ihn herum. Franz hatte alle Mühe, ihm zu folgen und es nicht aus den Augen zu verlieren. Nach zwei, drei Runden setzte es sich wieder auf den Pfad, spreizte die Hinterbeine weit auseinander und stieß einen großen Seufzer aus.
»Ach, herrje! Das kann was werden. Wo –«
»Hörst du wohl auf! Beantworte seine Fragen, ob dumm, ob schlecht! Schnell, bevor die Nacht einhält!«, schmetterte eine erhabene weibliche Stimme aus dem Nichts und ließ den Boden erbeben.
Franz fuhr zusammen und sank auf seine Knie. Die Hände hielt er sich schützend über den Kopf.
»Ja, ja. Ich mach ja schon. Immer hat sie was … Immer schreit sie … Was ist sie nur so hart?«, brabbelte das Wesen in sich hinein.
Franz blickte es fragend an, die Arme immer noch abwehrend erhoben.
»Nun gut, du Albermann. Ich will dir sagen, wer ich bin. Ich bin Iocus. Doch was ich bin, kann ich nicht sagen. Das weißt nur du allein. Und wo du bist? Was denkst du denn? Streng dich nur an!«
Franz nahm seine dünnen Ärmchen herunter und schaute sich um.
»Es ist so trostlos hier. So kalt, so rau. Alles seh ich nur in Grau.« Franz sackte ein wenig in sich zusammen und wirkte umso buckliger. »Dies hier muss mein Herz wohl sein. Ich kann es mir nicht anders denken.«
»Oh, oh, oh! Du kleiner Narr. Dein Herz? Dein Herz so grau? Dies hier ist für dich grau? Durfte lange nicht in so freudvollen Gegenden spazieren. Niemals ist dies dein Herz. Bis dahin ist’s noch weit. Dunkler, schwärzer, bis du nichts mehr siehst! Bist du einmal in deinem Herzen, wirst du nur tastend kriechen. Aber hui, du hast mich gar zum Schmunzeln wohl gebracht, hab Dank. Rat ruhig weiter, nur folge mir derweil! Die Alte macht mich sonst nur mürbe, wenn wir zu spät nach Hause kehren.«
»Wohin gehen wir?« Langsam stand Franz auf und blickte in den Wald. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab.
Das Wesen setzte zum Fluge an, umschwirrte ihn und stupste ihn dann zum Gehen. Franz gehorchte und lief los. Langsam und bedächtig durch die welken Gräser. Iocus setzte sich auf seine Schulter.
»Ach, kleiner Znarf, ich mag dich doch irgendwie. Siehst so elend aus. Bist so allein. Aber das wird nicht immer sein.«
Bei jedem Schritt, den Franz auf den Pfad setzte, sah er es jetzt sicher. Die Bäume des Waldes schoben sich hierhin, dorthin und kurz danach wieder woandershin. Bäume, die erst vorn gewesen, rutschten nun nach hinten. Von links nach rechts, es gab nur Ruhe, wenn auch Franz innehielt. Mulmig wurde ihm davon. Iocus schien genau in diese Richtung zu wollen, hinein in diesen dunklen Wald.
Die kleine Brücke ließ er rechts von sich liegen, der Bachlauf war ohnehin ausgetrocknet. Zwei, drei Meter stieg Franz hinab, übersprang die großen Steine und kletterte auf der anderen Seite wieder hinauf.
Überall krächzte es, gurgelte, knackte und rumorte. Auch die Raben und Krähen schrien immer wieder wütend. Der Wald war so dicht bewachsen, dass Franz sich fragte, wie er hindurchkommen sollte. Iocus flog von seiner Schulter bis zur anderen Seite der Brücke. Dort hielt er an und deutete zwischen die Bäume.
»Hier geht’s lang, du schlaffer Bub. Los, los, bald tönen schon die Schatten!«
Franz hatte das dumpfe Gefühl, dass alles, was das kleine Wesen sagte, höhnisch, gar spöttisch war. Fieberhaft überlegte er, was es wohl für ein Wesen sein könnte. Doch im Moment fiel ihm nichts ein. Er verscheuchte den Gedanken und besann sich seines Weges. Er folgte Iocus, der schon vorweg zum Waldrand geflogen war. Dort stand er nun vor einem schmalen Weg ins Reich des Morbiden. Franz konnte nur zehn oder zwanzig Meter weit in den Wald hineinschauen, dahinter lag tiefe Dunkelheit. Die Bäume umschlossen den Pfad zu allen Seiten, bildeten einen Tunnel und ein Dach aus morschen und vertrockneten Ästen. Die Geräuschkulisse wurde immer lauter, immer bedrohlicher.
Am Anfang des Weges erkannte Franz deutlich eine Linie auf dem Boden. Eine Art Grenze. Irgendwer muss sie mit einem Stock gezeichnet haben , schlussfolgerte Franz.
»Und? Haben wir es nun? Ich würd gern los. Nun komm!«
Franz nickte kurz und setzte seinen Fuß über die Linie. In diesem Moment drehte es ihn einmal um sich selbst, bis er wieder auf die Brücke schaute. Herumdrehen konnte er sich nicht. Er wollte zurücklaufen, den Strich erneut Richtung Brücke und Hügel überschreiten, aber auch dies blieb ihm versagt. Jeden Schritt, den er setzte, lief er rückwärts.
»Was ist hier los? Hilf mir doch, du freches Wesen!«, schrie Franz und stand den Tränen nahe.
»Habe nicht immer so viel Angst. Da musst du durch! So ist dein Finsterwald. Er macht, was er will. Oder was du wohl willst? Wer weiß das schon genau? Wirst du schon noch erfahren. Laufe nur, der Wald wählt heute deinen Weg. Ich schaue schon, dass du nicht fällst – über Wurzeln oder was dich sonst noch quält.«
Iocus krallte sich einen Zipfel seines Hemdes und zog an ihm.
Es war ein Graus für Franz’ Kopf. Jede Bewegung, die er machte, trieb ihn einen Schritt nach hinten. Dahin, wo er keine Augen hatte, immer tiefer in die verstörende Finsternis hinein. Schon nach wenigen Schritten schloss sich vor ihm das Dickicht. Die Brücke war weg, der kleine Hügel verschwunden. Düster war es nun geworden und seine Blicke huschten nervös hin und her. Aber er setzte weiter seine Schritte, einen nach dem anderen.
Manchmal versuchte Franz, hinter sich zu blicken, doch er konnte nicht weit sehen. Er sah nur, wie der Wald sich weiter wandelte und einen Weg freigab. Lange konnte er so nicht gehen, ehe ihn sein Nacken schmerzte.
Nach einer ganzen Weile glaubte Franz, dass es ein wenig heller wurde. Der Wald war in ein tiefes, dunkles Blau getaucht, dem sich ein Hauch von Lila untermischte. Die Bäume blieben weiter fahl, grau und wie abgestorben. Einige wirkten, als ob hier und da ein Feuer gebrannt hätte. Manchmal meinte er sogar, noch eine Glut oder einen dünnen Rauchschwaden zu sehen. Er war sich dessen aber nie ganz sicher. Zu viel Bewegung befand sich im Geäst.
Plötzlich stolperte er und stürzte auf den Rücken. Er stieß sich den Kopf und schrie auf. Als er sich aufsetzte, erkannte er eine Wurzel, die dick war wie ein Oberschenkel.
»Warum hast du nichts gesagt, Iocus?«
Das Wesen schaute ihn dümmlich an und schwieg. Zwischendurch zuckten kurz seine dünnen Flügel.
»Hey, ich rede mit dir! Was soll das? Du kannst doch alles sehen und geradeaus fliegen. Warum legst du mich so herein?« Franz wurde sauer. Dieser Ort, so fremd und gespenstisch, ein Wesen mit einem seltsamen Namen … Ihm wurde das alles viel zu viel.
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