Der expressive Extremist
Kurzgeschichten
Marius Rehwalt
Originalausgabe
1. Auflage 2019
© 2019 by Marius Rehwalt
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Herausgeber
David Walther
Dornblüthstraße 21
01277 Dresden
0173 3714104
Umschlaggestaltung und Motiv: Marius Rehwalt
Für Fragen, Anregungen, Buchungen und Presse:
David Walther
0173 3714104
Instagram: mariusrehwalt
Mail: marius_rehwalt@web.de
mariusrehwalt.com
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Berlin
Wer bist du?
Wer bin ich?
Und was kann ich wissen?
Wir alle sind Nichts.
In Würde und Qual.
Mit Selbsthass und Liebe.
Jeder ist sein Geheimnis.
Annabel steht im Bad vor ihrem Spiegel und betrachtet sich. Ihr Blick wandert durch sie hindurch, ihr Körper ist für sie nicht existent – das war er noch nie. Doch sie weiß nichts davon.
Auf dem Papier werden ihr zweiunddreißig vergangene Jahre zugeschrieben. Doch Annabel kann sie nicht spüren. Die Klangfarbe ihrer inneren Stimmung ertönt als zartes Mol und das Empfinden über sich selbst spricht von nur mickrigen sieben Jahren.
Tick. Tack. Schlug die innere Uhr. Tick. Tack.
Aus.
Vor vielen Jahren hörte diese immanente Uhr auf zu schlagen. Kein Geräusch mehr der Zeiger, die wie bei allen anderen unermüdlich voranschreiten. Die Zeit blieb stehen und klammerte sich fest in ihrem Geist. Hielt Annabel gebunden mit zeitlosen Krallen, behielt sie im Moment des kleinen Kindes.
Ihre müden dunkelblauen Augen durchdringen sie tief, beschauen ihr Innerstes, die Gedanken, die durch ihren Geist kommen und fliehen.
Ein Lächeln huscht ihr über die Lippen, von dem ihre Augen nichts mitbekommen.
Einmal sagte jemand zu Annabel, sie müsse sich jeden Morgen selbst im Spiegel anlächeln. Damit würde sie sich mehr Selbstbewusstsein erheischen, freudiger durch das Leben ziehen. Positiver.
Aber Annabel ist in sich gekehrt, mit einem vielschichtigeren Problem. Dieses Lächeln hat sie sich als tägliche Routine gut angeeignet. Ihm sitzt aber keine Ehrlichkeit inne. Wenn die Mundwinkel sich erheben, strömt eine Scheinheiligkeit durch den Raum, gewandt an all jene, die sich so sehr wünschen, sie würde lächeln und fröhlich sein.
Aber Annabel weiß nichts davon.
Seit Beginn ihres Lebens spielt sie eine merkwürdig verkrampfte Zufriedenheit aus, eine Liebe der Infantilen. Das liebe, glückliche und immer strahlende Kind, welches allen so viel Freude in die Augen zauberte.
Aber Annabel wusste nichts davon. Sie wusste viel zu wenig von der Welt. Noch weniger von sich selbst.
Dieses Selbst hatte sich tief in ihr vergraben. Anders wäre sie heute nicht mehr unter uns. Die Mauern zu ihrem Sein sind aus schwerem Stein, davor ein Stacheldrahtzaun, Wachleute positioniert im Abstand weniger Schritte.
Hin und wieder ertönt aus diesen Katakomben ein wimmernder, leiser Schrei. Zu zart, um ins Bewusstsein zu gelangen.
›Willkommen. Willkommen in der Fremdbestimmung. Willkommen in der Selbstentfremdung.‹
Hört die Zeit auf sich zu bewegen, dann hören auch alle nachfolgenden Gefühle auf. Emotionen sind gebunden an die Zeit, sie sind niemals von Dauer. Selbst eine Grundstimmung bleibt nicht auf ewig gleich. Der Ton deines Selbst ist hörbar anders als kleines Kind, zu deiner Einschulung, nach dem Abitur, dem ersten Brotjob, dem ersten Kind, deiner ersten Scheidung ... Doch der Ton macht dich aus und reflektiert deine Identität in deiner Umwelt. Jahre bleibt er konstant, um dann in eine etwas andere Klangfarbe zu wechseln.
Doch wie soll dies geschehen, wenn die Zeit zum Erliegen kam und die Emotionen sich nicht entwickeln durften?
In Annabel ist Stille eingekehrt. Sie hängt fest im Alter von sieben Jahren, begegnet mit zweiunddreißig Jahren allem und jedem wie ein kleines, verängstigtes Kind, das heute das erste Mal zur Schule muss.
Die Lehrerin blickte finster drein, die Mitschüler kannten sich schon alle aus dem Kindergarten.
›Ich bin allein. Ich werde für immer allein sein. Ein unbekannter Druck von unzähligen Erwartungen lastet auf meinem Rücken, in meinem Schulranzen. Werde ich ihn jemals los? Die Lehrerin kommt zu mir, öffnet meinen Rucksack und ich stürze zu Boden. Alle um mich herum lachen mich aus. Was legt ihr mir für Steine in mein Leben?‹
Ein fremder Mann baute sich langsam, wie aus einem dichten Nebel, vor Annabel auf. Dann sprach er zu ihr mit finsterer Miene: »Sei lieb! Sei fröhlich! Halte dich an Regeln und Normen! Da! Hörst du das? Hörst du es, kleine Annabel? Dies ist deine Persönlichkeit! Mach sie klein, mach sie halbtot. Baue ihr ein Verlies und füttere sie nur mit dem Bitteren, den Dingen deines Unbewussten und dem, was niemand hören sollte. Werde eine Nummer! Opfere dich. Doch lasse niemals dieses Wesen aus dir hinaus. Hier, meine kleine, liebe Annabel: Ich schenke dir eine Maske. Sie besitzt Spiegel und eine lachende Fratze. Rosa hab ich sie dir angemalt, denn Mädchen lieben Rosa! Da, halte dir die Ohren zu, geschwind, da ruft es wieder, dieses zur freien Entfaltung Strebende. Es ist noch zu jung, zu stark. So ein verspieltes, dummes kleines Wesen soll gefälligst die Fresse halten! Am besten ist, du tötest es gleich! «
Annabel blickte mit Tränen in den Augen zu dem Mann der Gesellschaft hinauf und fragte ihn leise: »Aber steht auf Mord nicht eine hohe Strafe?«
»Ach Annabel, natürlich! Aber doch nicht hier! Nicht in deinem Kopf. Wir sind frei in dem, was wir anstellen und du unsere Dienerin! Außerdem bist du ein Kind und Kinder haben zu schweigen. Also gilt, wo kein Kläger, da kommt auch kein Richter zu Hilfe! Strafe gibt es doch nur in der Realität! Oder hast du schon einmal jemanden gesehen, der dir sein Selbst vorgestellt hat?« Der Mann der Gesellschaft lachte lauthals los und die Zeit kam ins Trudeln, bis sie in Annabel zum Erliegen kam.
Annabel starrt noch immer in ihr Spiegelbild, durch sich hindurch und hinein in die Ewigkeit der Umwelt.
Annabel hat nichts in ihrem Leben außer ihre Traurigkeit und Angst. Ein wenig Überlastung und sehr viel verstecktes Fremdes in ihrem Unbewussten. Ein falsches Leben in Taubheit der Gefühle.
Der Wunsch nach Verständnis und mehr Liebe wurde mit eingesperrt bei ihrem weit entfernten Selbst.
Doch von all dem weiß Annabel leider nichts. Sie zieht sich an und bleibt weiter, wer sie sein soll.
»Sprich doch endlich einmal zu mir!«, schrie Beatrice ihren Mann an. Die Tränen standen in ihren kleinen hellgrünen Augen, die Mundwinkel zuckten nervös auf und ab. Innerlich wusste sie längst, dass es vorbei war, doch sie konnte es nicht wahrhaben, sie wollte nicht, dass der Weg hier sein Ende fand. Beatrice ließ sich müde auf das Sofa fallen und wartete ab, während Bernd schweigend und leicht zitternd vor sich hin starrte. Nach einer Weile packte Beatrice eines der roten Kissen und drückte es sich schwach ins Gesicht. Mit letzter Kraft schrie sie hinein. Zu wenig Hoffnung und zu wenig Geist zum Kämpfen war ihr geblieben.
Es dauerte lange, ehe Bernd seine Worte wiederfand. Sein innerer Hass auf sich selbst schnürte ihm Sinn und Kehle zu. Doch dann sprach er kaum hörbar: »Du sitzt vor mir und ich spüre es, als wäre ich es selbst, der etwas über mich erfahren möchte. Das meiste, ›was ich denke und fühle‹ verstehe ich selbst nicht, höre immer nur kurze Gedanken oder werde wie von fremder Hand erdrückt.«
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