Beim nächsten Schluck Rotwein war ihr alles klar. Der Täter betrog sie um Stunden voller Lust und Liebe. Um zarte Berührungen und Küsse, die in ihren Schoß kribbelten und sie dazu animierten, alles zu tun, was Walter ihr vorschlug. Einfach so, weil es in diesem Moment das Schönste war, was sie sich vorstellen konnte. Aber das würde er büßen müssen. Selbst wenn der Gedanke vielleicht etwas weit hergeholt war, nahm es Franziska dem Täter durchaus übel, dass er sie wegen einer im braunen Wasser treibenden Leiche in einem verlassenen Haus um diesen wundervollen Liebesurlaub mit Walter gebracht hatte. Als kleiner Nebeneffekt war ihre Wut sehr gut dazu geeignet, um sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Noch hatten sie dem Täter keinen Fehler in seinem Vorgehen nachweisen können, einen hatte er aber auf jeden Fall bereits gemacht: Er hatte sich mir ihr ganz persönlich angelegt. Und das war sein größter Fehler, wie sie nach dem nächsten Schluck Rotwein grimmig befand.
Fröstelnd legte sich Natalia ein warmes Tuch um die Schultern, nahm den Schlüssel vom Haken und verließ leise die Wohnung. Im Treppenhaus blieb sie einen Moment stehen und lauschte, doch alles war ganz ruhig.
Trotzdem setzte sie die Schritte mit Bedacht, als sie die Holztreppe hinunterging, zwei Stockwerke, bis sie die Tür zum Keller erreicht hatte. Es war eine schlichte Tür, und von außen konnte niemand ahnen, was sich seit Jahrhunderten dahinter verbarg. Als sie die Tür durchschritten und wieder hinter sich geschlossen hatte, stand sie in einem schmalen Gang, der im Dunkeln lag. Damit war die schwierigste Etappe ihres Weges geschafft.
Wie gewöhnlich fanden ihre Finger den Kippschalter. Nach wenigen Momenten wurde der Raum in ein dämmriges Licht getaucht und ihr Blick auf die wunderschöne zweiflügelige Eichenholztür gelenkt. Ehrfürchtig ging Natalia auf sie zu, öffnete einen Flügel und schlüpfte hinein.
Als sie diesen Raum zum ersten Mal betreten hatte, war er für sie, wie für alle anderen im Haus, nur ein Keller gewesen. Sie hatte ihren Koffer in die eine Ecke gestellt, und mit ihm all das, was sie nicht für jeden sichtbar in ihrem Zimmer aufbewahren wollte.
Nach und nach war sie immer öfter heruntergekommen, denn sie hatte gespürt, dass dieser Raum förmlich nach ihr rief. Im Laufe der Wochen hatte sie damit begonnen, ihn aufzuräumen und sauber zu machen, wobei sie irgendwann endlich auf sein Geheimnis gestoßen war. Sie befand sich nicht nur in einem Keller, sondern in einer verlassenen Kirche, und als sie dann auch noch ein Bildnis der Jungfrau Maria gefunden hatte, war sie sich sicher, dass es ein Gotteshaus zu ihren Ehren sein musste. Eine Kirche der Heiligen Jungfrau Maria. Unter der Erde.
Auch jetzt holte Natalia das kleine Bild hervor, lehnte es in einen Mauervorsprung, zündete die beiden links und rechts davon stehenden dicken Kerzen an und sank auf die Knie. „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden“, flüsterte sie dem Bild zu und wartete darauf, dass die Jungfrau sie anlächeln würde.
Die Gottesmutter ließ sich Zeit, erst nach der fünften Ansprache erhellte ihr sanftes Lächeln den ganzen Raum. Sofort beruhigte sich Natalia. Dann faltete sie die Hände und begann zu beten: „Der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.“
Schon als Kind hatte Natalia viel gebetet, mit der Großmutter, der Mutter und den Schwestern, und immer war es die Jungfrau Maria, die sie um Schutz und Hilfe anflehten. In der Heimat waren sie als Christen eine Minderheit, toleriert, aber nie wirklich dazugehörig. Jetzt war sie hier und zählte doch schon wieder zu denen, die nicht dazugehörten. Zu denen, die keine Rechte hatten.
„Du kannst mir ja helfen, o Mächtigste. Du willst mir ja helfen, o Gütigste. Du musst mir nun helfen, o Treueste. Du wirst mir auch helfen, Barmherzigste.“
Immer sehnsüchtiger wurde Natalia in ihrem Flehen, immer inniger wurden ihr Wunsch, ihre Hoffnung, ihre Sehnsucht nach Erlösung.
„Mutter, auf dich hoff und baue ich, Mutter, zu dir ruf und seufze ich, Mutter, du Gütigste, steh mir bei, Mutter, du Mächtigste, Schutz mir leih!“
Kaum jemand wusste, wie es in ihrem Innersten aussah, ahnte, wie verzweifelt der Schmerz in ihr brannte, und niemand konnte ihr helfen. Nur die Heilige Maria, denn sie wusste: „Maria hilft immer in jeglicher Not!“
Tief versunken in das Gebet zur Gottesmutter flog die Zeit dahin. Mahnte nicht und zählte nicht. Ließ die beiden sich berühren und entfernen und gönnte es ihnen, sich dabei immer näher zu kommen. Bis die Jungfrau selbst aus dem Bildnis trat und Natalia die Hand auf den Kopf legte, um sie zu trösten und zu segnen. Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, und wo ich bin, da ist kein Platz für Furcht, versprach sie mit fester Stimme und zog Natalia in eine innige Umarmung.
Natalia begann zu weinen, doch unter Tränen flehte sie weiter: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes!“
Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschah nach seinem Wort, und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, sprach Maria, und Natalia antwortete: „Allmächtiger Gott, gieße deine Gnade in unsere Herzen ein. Durch die Botschaft des Engels haben wir die Menschwerdung Christi, deines Sohnes erkannt. Lass uns durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen, darum bitten wir dich, durch Christus, unseren Herrn. Amen.“
Nur ganz langsam, aber mit sanfter Beharrlichkeit, nahm die Angst, die Natalia schon so lange zum ständigen Begleiter geworden war und in den vergangenen Tagen noch zugenommen hatte, wieder ab. An ihre Stelle legte sich ein Vertrauen in das Wort der mächtigsten Frau, der größten Fürbitterin, der Zierde des Himmels.
Erst als draußen der Regen innehielt, um dem seltenen Besuch der Junisonne einen Auftritt am Himmel zu gönnen, verließ Natalia, ruhig und gefasst, die kleine versteckte Kirche unter der Erde. Das Bild der Heiligen Jungfrau Maria ließ sie stehen, der Rahmen war ohnehin leer und verlassen. Denn die Gottesmutter stieg neben ihr die Stufen hinauf, um sie zu begleiten. Es war kein leichter Weg, aber Natalia musste tun, was ihr vorbestimmt war.
Inzwischen stand das ganze Örtl unter Wasser. Der Inn traf die Donau jetzt auf dem Platzl, im Hirschwirtsgaßl und im Klosterwinkel. Selbst bei den Nonnen in Niedernburg war Land unter, und als Dank dafür, dass er dabei geholfen hatte, die Heizung auszubauen und in Sicherheit zu bringen, hatten sie ihn zum Essen eingeladen und ein Nachtlager für ihn errichtet. Das Essen bei den Nonnen war wirklich gut. Nur Zigaretten hatten sie eben keine. Dafür meinten sie, er solle ein Bad nehmen und mal seine Sachen wechseln. So ein Quatsch. Er war doch eh gleich wieder draußen. Aber dann hatte die Oberin sich vor ihn gestellt, die Arme in die Hüften gestemmt und gesagt: „Jetzt wird gebadet!“ Fehlte nur noch ein ‚Basta!‘. Doch darauf hatte er nicht gewartet. Bevor sie seiner habhaft werden konnte, war er entschlüpft und zu seiner Zille gelaufen.
Was dachten sich diese frommen Weiber eigentlich? Glaubten sie, er habe nichts Besseres zu tun, als ein heißes Bad zu nehmen? Ein richtiger Mann war bei einer solchen Katastrophe im Einsatz. Feuerwehr, THW, Wasserwacht und die Krankenhilfsdienste brauchten jeden Mann, jedes Boot, jede zupackende Hand. Alte und Kranke mussten versorgt, Einkäufe ausgeliefert, Menschen zur Arbeit und abends wieder nach Hause gebracht werden. Hochwasser war keine Idylle. Hochwasser war ein einziger Kampf gegen die Naturgewalten.
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