Heute nicht, morgen nicht, niemals!
„Nordkorea lässt grüßen. Aber was hat das mit mir und dem Stiegermann zu tun?“ Für Remsen ist Stiegermann ein typischer Lackaffe, mit durchschnittlicher Begabung und so gepolt, möglichst schnell und ohne Hindernisse auf seiner Karriereleiter hinaufzukommen.
„Herr Remsen, Stiegermann ist ein lebendes Beispiel, wie jemand mit Hilfe des Apparats hochkommen konnte. Das müssen Sie wissen. Die Familie Grundberg war in Vesberg während der DDR-Diktatur stramm linientreu. Ich kannte noch den alten Grundberg, als der aus der russischen Gefangenschaft, lange nach Ende des Krieges, zurückkam und begann, hier die Zügel in die Hand zu nehmen. Er und ein paar seiner Gefolgsleute mit Russlanderfahrung fanden sich recht schnell zu einer Clique zusammen, drängten Unwillige aus den Ämtern oder waren sie gleich in Gefängnisse. Unberechtigterweise, ohne Grund. Oh doch, einen Grund hatte man schnell erfunden: Sie standen Grundberg und seiner Kommunistengarde im Weg oder wetterten gegen die aufkommende Diktatur. Jeder Widerstand wurde systematisch ausgetreten, die Leute brutal fertiggemacht. Sie kennen Bautzen II, Hoheneck, Brandenburg? Mitten in Berlin folterte die Staatssicherheit, niemand außerhalb der Mauern wusste etwas davon. Oder interessierte sich dafür. Hier in Vesberg gab es auch so einen Ort. Im Volksmund ‚Endstation Hölle‘ genannt; heute ein Museum. Wir schauen uns das mal an; ich nehme Sie mit. Und vergessen Sie Remsen, über Rechtsstaatlichkeit zu debattieren.“
Remsen brachte nach den letzten anstrengenden Tagen nicht mehr die Energie auf, all die Details zu durchdenken, von denen Dr. Stahlburg gerade sprach. Und nein, er wollte sich keinen Stasi-Knast ansehen.
Nicht mit Stahlburg!
Nicht mit einer Larissa, wenn sie noch leben würde!
Nein, niemals!
Nicht seine Welt!
Aus!
Vorbei!
Ich will heute nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit ließ merklich nach. War es die Wirkung des Laphroaig oder machte sich der Stress der letzten Tage bemerkbar? Oh ja, jünger wurde auch ein Jan Remsen nicht. Er begann sich einen Plan für einen stilvollen Abgang zurechtzulegen, um den Abend nicht unnötig auszudehnen. Aber ein paar Informationen brauchte er noch.
„Dr. Stahlburg, kennen Sie vielleicht Georg Weilham, einen der beiden Geschäftsführer der CodeWriter? Das ist eine Softwarefirma, nicht groß, müsste Ihnen aber bekannt sein.“
Der Oberstudienrat a.D. dachte lange nach und tat so, als hoffte er mit seinen suchenden Augen einen Hinweis in seinem Studierzimmer auf die Frage seines Gegenübers zu finden.
„Eigentlich mehr den anderen, Hausmann. Das ist ein alter Informatiker, immer neugierig auf neue Ideen und Techniken. Er hat bei uns öfter Vorlesungen gehalten. Die Schüler waren begeistert und wollten alle in der IT bleiben und groß rauskommen. Sind sie natürlich nicht, aber er hat nebenbei ganz lebendig Werbung für seinen Beruf gemacht. Er versteht was davon, sehr viel sogar. Als er dann mit Weilham CodeWriter gründete, habe ich beide etwas beraten. Na ja, ein paar kluge Ratschläge gegeben. Zur Seite gestanden eben.“
Dr. Stahlburg schaute recht zufrieden Remsen an, der immer noch hoffte, hier schnell und elegant wegzukommen. Auf der anderen Seite war er neugierig; vielleicht erfuhr er doch noch etwas wirklich Neues von ihm.
„Sie sagten, Hausmann hat mit Weilham... Wer war der Bestimmende, der Tonangebende? Soweit ich Georg Weilham kennengelernt habe, kann der nicht der Motor gewesen sein. War CodeWriter mehr Hausmanns oder mehr Weilham's Idee?“
CodeWriter! Das ist schon lange her, sehr weit weg für einen alten Mann. Stahlburg war ganz in sich versunken und versuchte sich, an die Zeit damals zu erinnern. Die verrückten Ideen von Karl, diesem Self-Made Menschen, der sich für viele Dinge begeistern ließ und dem selten was gelang. Er mochte ihn richtig und gab sich dafür her, mit ihm die Ideen für die neue Firma zu entwickeln, über Marktchancen und Potentiale zu diskutieren und ihn auf Risiken aufmerksam zu machen. Damals, so erinnerte er sich, gefiel es ihm, Karl und dann Georg Weilham als vertrauter Berater zur Seite zu stehen und von beiden gefragt zu werden.
„Das ist lange her, Herr Remsen. Es ist doch wie immer: Zwei Leute, Meister ihres Fachs, haben eine tolle Idee und wollen damit die Welt retten und nebenbei reich werden. Dann kommt jemand daher und rückt die Geister zurecht. Beliebt ist man da nicht. Nicht, dass ich etwas damals dagegen hatte. Nein, nein. Ich habe mich eher den Realisten gegeben und Fragen gestellt, die beide nicht hören wollten. Egal, CodeWriter wurde gegründet und hat in den letzten 15 Jahren einen guten Weg eingeschlagen. Ich glaube, dass eher Hausmann derjenige war, der in der Firma das Sagen hat. Wenn ich ehrlich bin, habe ich CodeWriter etwas aus den Augen verloren und erst wieder Anfang des Jahres von denen etwas gehört. Cordula rief mich an und erzählte von Torstens Zusammenbruch. Mir war klar, dass er an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gehen würde. Nicht klar war mir allerdings, dass die Ursache des Infarkts Karl war. So schätzte ich das nicht ein und erwartete es nie. Scheinbar waren beide so zerstritten, indem Karl Hausmann Torsten so unter Druck setzte, dass der sein Lebenswerk in Gefahr sah und der Konflikt dessen Gesundheit angriff. Was soll man machen, wenn man sich zwanghaft einigen muss, Herr Remsen?“
Remsen lauschte zwar den Ausführungen vom Studienrat a.D. Dr. Stahlburg, jedoch stellte er fest, dass er sich nichts davon merkte. Sollte er es zugeben oder einfach mit Fragen sein Interesse heucheln?
Stahlburg kam ihm zuvor und konfrontierte Remsen mit seiner Sicht auf die Dinge. „CodeWriter war erfolgreich die ersten Jahre, nicht übermäßig, aber immerhin. Nachdem Hausmann bei den Behörden anfangs Aufträge für wissenschaftliche Einrichtungen gewinnen konnte, kam Stillstand in die Entwicklung von CodeWriter. Die Astrophysiker-Geschichte, sagte ich damals immer, wird euch niemals ernähren: Ihr braucht neue Geschäftsfelder, habe ich immer gesagt. Dann kam der Deal mit Safety Objects, der mir nicht gefiel.“
Dafür, dass er nur anfangs mit dabei war und sich für die Anfänge von CodeWriter interessierte, war dieser Mann gut informiert. Remsen begann zu erahnen, dass er heute doch noch etwas Interessantes für seine Ermittlungen erfuhr. Seinen Abgang wird er etwas schieben müssen.
„Wir sprechen doch von Igor Abtowiz, dem Inhaber der Safety Objects. Was wissen Sie von dem?“ Remsen spitzte die Ohren, denn er hoffte, dass ihm sein Gegenüber jetzt von seinen eigenen Recherchen berichtete. Tatsächlich, er tat es.
„Wenn Abtowiz nicht ein Pole wäre, würde ich ihn als Wendehals bezeichnen. So wie viele andere hier auch. Zunächst dachte ich, er wäre auch einer dieser zwielichtigen Gestalten, die etwas legale und jede Menge illegale Geschäfte miteinander vermischen. Geldwäsche, Prostitution, Türsteher und Bodyguards – Sie wissen schon Herr Remsen, wie so etwas läuft. Ihr habt doch in Hamburg jede Menge davon.“
Remsen nickte nachdenklich und versuchte mehr oder minder geschickt mit dem Glas in der Hand die Aufmerksamkeit des Spenders dieser edlen Flüssigkeit auf sich bzw. auf das inzwischen leere Glas zu lenken. Dr. Stahlburg verstand schnell, denn auch sein Glas war leer. Gegen einen zweiten Whisky hätte auch er nichts einzuwenden.
Stahlburg schien Remsens Gedanken lesen zu können. „Noch einen Stimmungsmacher zum Manipulieren der Gedanken?“ Er stand auf, griff sich die Flasche Laphroaig und goss beiden nach. Sich zeitlassend nahm er in aller Ruhe wieder Platz, prostete Remsen zu und sog das braune Gold äußerst genüsslich ein.
„Bis Anfang der 1980-iger Jahre, als in Polen die Solidarnosc begann, den Kommunisten dort das Leben schwer zu machen, war Abtowiz bei einem berüchtigten Ableger der polnischen Staatssicherheit, dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit und darauf spezialisiert Informanten zu gewinnen, zionistische und feindlich gesinnte Leute ausfindig und wenn es sein muss, mundtot zu machen. Ich habe meine Erkundigungen eingeholt und Karl informiert.“
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