Was jetzt? Einen Plan B hatte auch Remsen auf die Schnelle nicht. Er sollte mal mit Van Morrison telefonieren, vielleicht fällt ihm ein Song dazu ein. Apropos einfallen: Er könnte sich ja einen ruhigen Sonntagabend machen und die noch ungeöffnete DVD ‚ Live at the Hollywood Bowl ‘ von ihm anschauen. Das wäre doch ein guter Plan B für heute. Die Ironie in der Idee erkannte Remsen erst später.
Die zum Nachmittag angesetzte Pressekonferenz wurde wie erwartet ein Fiasko. Oben auf dem Podium saß neben dem Staatsanwalt Stiegermann und Kriminalrat Dietering noch Kriminaloberkommissar Ulrich. Dietering gab der Kriminalassistentin Kundoban für den Rest des Tages frei. Er war davon überzeugt, dass die nächsten Tage von der Mordkommission insgesamt und auch von Jutta Kundoban jede Menge abverlangen werden. Sie war schon das ganze Wochenende voll im Einsatz, sodass einige Stunden Freizeit ihr sicher guttun würden.
Er rechnete jedoch fest mit Remsen, der mit Sicherheit die meisten Fakten beisteuern könnte. Auf seine spezielle Art, eine Mischung aus kumpelhaftem Gehabe und freundlich bestimmten Ausweichen von Antworten auf messerscharf gestellte Fragen schaffte er es immer wieder, die Pressemeute auf Distanz zu halten. Remsen ließ dabei nie ein Zweifel aufkommen, dass die Kollegen der W36 hoch professionell und mit Engagement ihrem Job nachgehen.
Dietering versuchte nach dem Crash mit Remsen, den Staatsanwalt zu besänftigen. Er musste bis zur Pressekonferenz Ruhe reinbringen und sich vor allem um Remsen kümmern. Einerseits brauchte er ihn; ihn, den erfahrenen und in vielen Hamburger Jahren gestählten Ermittler. Ja, er war schon sehr eigenwillig; deshalb akzeptierte ihn überhaupt nicht. Andererseits kollaborierte er durchaus mit seinen Kollegen und gab vielen Ermittlungen mit seinen unkonventionellen Ideen immer wieder den entscheidenden Kick. Wenn Remsen bei den Ermittlungen mitmischte, konnte Dietering eine recht hohe Erfolgsquote nachweisen. Auch und vor allem in seinem eigenen Interesse.
Remsen aber war nach dem Streit mit Stiegermann von der Bildfläche verschwunden. Sein Handy war aus, sein Büro unbesetzt und zu Hause schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
Dietering konnte Remsen durchaus verstehen. Torsten Stiegermann war karrieregeil und menschlich ein widerlicher Kerl. Im Grunde wusste das jeder im Kommissariat und bei der Staatsanwaltschaft, aber nur Remsen traute sich, seine Antipathie offen zu zeigen.
Das Ganze interessierte ihn jetzt nicht, er brauchte Remsen für die PK. Der Pager war die letzte Möglichkeit, ihn direkt zu erreichen. Remsen durfte den Pager nie ausschalten; eine der wichtigsten Regeln bei der Mordkommission. So ließ er Remsen anfunken und hoffte auf dessen Rückmeldung; kurzfristig oder besser sofort.
Remsen meldete sich nicht.
Der Presseraum war für einen Sonntag sehr gut gefüllt. Es waren die üblichen Verdächtigen der Boulevardpresse, aber auch Journalisten seriöser Zeitungen erschienen. Sogar drei Fernsehsender beorderten Kamerateams in die PK. Vor dem zentralen Platz auf dem Podium war eine ganze Batterie von Mikrofonen aufgebaut.
Dietering und Ulrich standen etwas abseits und redeten aufeinander ein. Der Kriminalrat verlegte sich auf die Strategie, eine simple Erklärung rauszugeben, die Ulrich auf die Schnelle verfasste. Weiteren Fragen wollte Dietering nur wenig Zeit einräumen, denn er war davon überzeugt, dass bei dem Aufgebot auf beiden Seiten die Mordkommission kaum Chancen haben dürfte, als Sieger aus der PK hervorzugehen. Außerdem war es noch nie seine Stärke, auf spontane Fragen genauso spontane Antwort zu geben. Er kannte seine beiden Mitstreiter nur zu gut und wusste, dass sich beide im Zweifel hinter ihm verstecken würden.
Remsen tauchte nicht mehr wie erhofft auf, dafür betrat Staatsanwalt Stiegermann unmittelbar vor Beginn der PK den Presseraum, schritt entschlossenen Schrittes nach vorne und nahm auf dem Podium rechts außen Platz. Ganz passend, fiel Dietering dazu nur ein.
Der Kriminalrat verlas im monotonen Ton die von Ulrich verfasste Erklärung. Ohne Emotionen. Ohne den Anschein zu erwecken. Ohne PK unnötig in die Länge zu ziehen. Als Dietering zum Ende kam, stellte er für sich fest, dass der Kriminaloberkommissar den bisherigen Verlauf und den Stand der Ermittlungen so gut zusammengefasste, dass er, Dietering, sich ganz spontan entschlossen hat, keine Fragen zuzulassen.
„Da wir zum aktuellen Stand der Ermittlungen nichts mehr sagen können, bitte ich Sie, auf weitere Fragen zu verzichten. Sobald wir belastbare Ergebnisse haben, werden diese an Sie weitergeben. Bis dahin bitte ich Sie, sich zu gedulden.“
Dietering sah zufrieden auf die Meute und machte Anstalten aufzustehen. Ohne auf Stiegermann und Ulrich zu achten, die aus unterschiedlichen Gründen keine Anstalten machten, ihn zu unterstützen, sah er die Pressekonferenz für beendet an.
Er machte allerdings seine Rechnung ohne die Presse. Sie drängten vor zum Podium oder schrien Fragen in den Raum. Dietering verglich die Situation mit einem Aufruhr eines Publikums am Ende einer Opernpremiere, welches sich äußerst schlecht unterhalten fühlte. Wie er spürte, hinkte der Vergleich, denn die Journalisten fühlten sich vor allem schlecht informiert.
So war es an Guther, einem Vertreter der überregionalen Tageszeitung, seine Fragen so zu stellen, dass Dietering und seine beiden Kollegen diese nicht ignorieren konnten.
„Herr Kriminalrat Dietering, nach meinen Informationen wurde auf dem Haus des Vaters eines der Opfer heute Nacht ein verheerender Brandanschlag verübt. Darüber haben Sie uns nicht informiert. Was können Sie dazu sagen?“
Kai-Uwe Guther war Journalist des Vesberger Tageblatts, eine Zeitung, die aufgrund ihres informellen Netzwerks und der sehr guten Recherchearbeit bekannt und viel beachtet war. Die Mitarbeiter des VT waren phänomenal in Politik, Gesellschaft und in der Wirtschaft vernetzt. Guther hatte sich über viele Jahre seinen Respekt und reichlich Anerkennung beim Vesberger Tageblatt hart erarbeitet.
Er wurde nach der Schulzeit Informatiker, EDV-Facharbeiter wie es damals exakt hieß. Diese Ausbildung musste er machen, da ihm das DDR-Regime aus unerklärlichen Gründen sein Traum, ein Jurastudium, verwehrte. So musste sich Guther mit der EDV arrangieren, was ihm mit der Zeit gelang. Er wurde sogar richtig gut darin, da er sich im Laufe der Jahre in der Kryptographie, den Netzwerkprotokollen und in dem Aufbau von Rechnerverbunden immer besser auskannte. Noch während der Wirren um die Wiedervereinigung sah er seine Chance gekommen und begann mit dem der Journalistik. Guther spezialisierte sich auf Gerichtsberichte, dem Aufarbeiten, vor allem dem Aufdecken von spektakulären Fällen insbesondere der Wirtschaftskriminalität. Vesberg war dafür ein dankbares Pflaster.
Guther beschäftigte sich schon seit geraumer Zeit mit der Entwicklung von IT-Firmen im Großraum Vesberg. Sein Chef war fest davon überzeugt, dass nicht alle davon legal zu Ruhm und Ehre gekommen sind. Guther sollte herausbekommen, welche Geschäfte die Start-ups von damals gemacht haben und welche Beziehungen es in Richtung Osteuropa gibt.
Im Visier hatte er auch CodeWriter. Obwohl die Firma nicht übermäßig groß war, sich seriös gab, war das Umfeld der Kunden von CodeWriter mehr als spannend. Guther war der Meinung, dass in der Sicherheitsbranche kaum etwas ohne illegale Absprachen und Korruption ablaufen würde. Speziell die Beziehung zwischen Hausmann und Weilham, die beiden Macher von CodeWriter und dem Igor Abtowiz, Chef der Safety Objects war Guther suspekt.
Der Anruf gestern Vormittag warf seine Wochenendplanungen komplett über‘n Haufen. Guther war im Presseraum anscheinend der Einzige, der wusste, wer der Tote war und dass dieser von einer Dienstreise aus der Ukraine zurückkam.
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