Nach einigem Klingeln nahm jemand auf der Gegenseite den Anruf entgegen: „Stiegermann hier.“
„Hallo Torsten, Karl Dietering. Muss dich leider stören, auch wenn es Sonntag ist. Vielleicht hast du schon gehört; wir haben einen Mordfall an der Backe: Internationale organisierte Kriminalität. Hier in Vesberg.“
„Davon habe ich noch nichts gehört Karl. Was ist genau passiert? Erzähl.“ Stiegermann schien wirklich noch überhaupt nichts zu wissen. Davon war Dietering überzeugt. Also erzählte er dem Staatsanwalt die wenigen Dinge, von denen er bisher erfuhr.
„Seit wann wisst Ihr, dass es Mord war, Karl?“
„Um ehrlich zu sein, schon bald nach der Besichtigung des Tatorts am Freitagabend. Zumindest äußerte Dr. Ansbaum recht schnell die Vermutung, die sich gestern dann bestätigte.“
„Sag mal, du willst mir erklären, dass Ihr seit gestern wisst, dass wir einen Mord mit zwei Toten haben und Ihr habt mich davon nicht unterrichtet.“ Was ganz ruhig begann, entwickelte sich bei Stiegermann zu einem echten Schreianfall. Trotz Sonntagnachmittag.
„Karl, kann ich mich überhaupt nicht mehr auf dich verlassen?“
Dietering brachte kein Interesse auf, ein Kräftemessen an einem Sonntag und am Telefon zu veranstalten. „Wenn du aufhören würdest so rumzuschreien und deinen Arsch hierher bewegen könntest, wären wir schon weiter. Die PK mit der Meute steigt nicht ohne dich. Um 16 Uhr, um ganz genau zu sein.“ Dietering drückte das Gespräch weg und warf sein Telefon auf das Sofa in seinem Büro.
Er selbst plumpste hinterher und fühlte sich genervt.
In Delft war die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Diese Dilettanten sind noch nicht einmal in der Lage, ein Haus nebst Bewohner abzufackeln. Einfach nur einen Auftrag auszuführen; ist das zu viel verlangt?
Der Plan war gestern Nacht gründlich schief gegangen. Dabei bestand er immer darauf, nur echten Profis den Auftrag zu geben. Aber nein, er ließ sich breitschlagen und griff schlussendlich auf unbekanntes Personal zurück.
Wird er alt und weich?
Auf einmal?
Oder kommt das schleichend?
Das kennt er nicht von sich. Seine Pläne zieht er in der Regel ohne Gezeter durch. Bisher war das immer so, sonst wäre er nie so weit gekommen.
Nicht mit mir Kollegen.
Was soll er jetzt tun?
Ihm läuft die Zeit davon.
Wem kann er jetzt noch vertrauen?
Er braucht eine Idee, schnell und gut.
Jetzt!
Sofort!
Aufgeregt lief er seinem Büro herum. Das könnte eher als kleines Rechenzentrum durchgehen. Der Raum war vollgestopft mit Servern, Monitoren, Kabeln und jede Menge Telefonen.
Eine Lösung muss her, sofort!
Er schaute wiederholt auf seinen Monitor und sah, dass der Schaden an beiden Fenstern von Weilham's Wohnhaus notdürftig behoben wurde. Auch im Haus drinnen scheinen die Beeinträchtigungen nicht so groß zu sein. Das Haus ist bewohnbar.
Entsetzt sah er auf seinen Monitoren, dass die Alte von Georg Weilham unversehrt mit einem Polizisten und offensichtlichen Handwerkern von außen die Schäden der Molotov-Cocktails begutachtete. Richtig erbost war er, als er Weilham putz und munter aus einem Taxi aussteigen sah.
Dabei ordnete er an, wirksamere Waffen zu verwenden; vom ihm aus Handgranaten. Von Weilham und der CodeWriter-Pest hatte er den Hals gestrichen voll.
Jetzt Ruhe bewahren.
Was war mit seinem Plan C?
Er goss sich einen doppelten Malt ein und ließ das hellbraune flüssige Gold über seinen Gaumen genüsslich in die Kehle fließen. Sofort stellte sich ein wärmendes und wohliges Gefühl ein. Augenscheinlich korrigierte der zweite Schluck seinen Puls auf beruhigendes Betriebsniveau.
Jetzt ist Nachdenken angesagt.
Er dachte über seinen Sicherheitsplan nach. Ein Plan, gedacht als Fallback-Taktik.
Für alle Fälle.
Für den Notfall.
Ist der jetzt eingetreten? Er sinnierte darüber und befand: Ja! Die Zeit drängte und Weilham ist noch immer der Störfaktor.
Als er seinen leistungsfähigen Rechner und die Kryptologie-Programme gestartete, gab er seine individuellen Eingangsinformationen ein. Stolz war er auf seine kryptografische Hashfunktion, die definitiv nur eindimensional verwendbar und niemals nachvollziehbar sein wird. Den HMAC lässt er zusätzlich mit zufälligen Kompressionsverfahren ermitteln. So ist nie ein Anruf, keine einzige Aktivität seinerseits durch niemanden nach verfolgbar. Selbstverständlich benutzte er dynamische Routing- und Anonymisierungsverfahren, um definitiv auszuschließen, dass er jemals lokalisiert werden konnte.
Obwohl er wusste, dass die Berechnungsverfahren trotz seines im Giga-Flop Bereich arbeitenden Rechners etwas länger dauerten, wurde er unruhig. Als aber die Töne des Wählverfahrens hörbar wurden – er war ein hoffnungsloser Nostalgiker und konnte auf die analogen Geräusche des Verbindungsaufbaus der Uralt-Telefonie nicht verzichten – konzentrierte er sich auf seine Botschaften.
Auf der Gegenseite nahm nach genau zweiminütigem Klingeln jemand ab: „Ja, hallo.“
„Wie abgesprochen. Holt sie euch und macht es hinter der Grenze.“
Soweit die knappe Anweisung. Weiteres war dem nicht hinzuzufügen.
„Überall ist Polizei. Wir kommen unbeobachtet nicht an die ran. Das Haus wird bewacht.“ Der Angerufene klang richtig verzweifelt und suchte nach Ausreden, um den erneuten Auftrag nicht ausführen zu müssen.
„Nicht mein Problem. Ich erwarte Vollzugsmeldung morgen früh. Wenn nicht, dann hole ich dich. Ich finde dich überall.“ Er legte auf und war zufrieden. Sie wussten nicht, wer er war und wer sie drängt, solch einen riskanten Auftrag zu erledigen. Diese Ahnungslosen; sollen sie doch im Ungewissen bleiben.
Nein, zufrieden sieht anders aus. Aber vorerst konnte er nichts mehr tun, also musste er sich mit dem begnügen, was er jetzt in die Wege geleitet hatte.
Bis morgen musste er warten und sich in Geduld üben.
Aber, wenn wieder nicht…
„Ulrich, was konnten Sie über den Anschlag noch rausbekommen?“
Dietering und Ulrich saßen im Büro des Kriminalrats. Nur Remsen widersetzte sich der mehrmaligen Aufforderung, stand am Fensterbrett angelehnt und schaute ausdruckslos auf die beiden. Er musste seinem Chef beweisen, dass er, Remsen immer noch derjenige ist, der mit genialen Ideen die beste Aufklärungsrate für sich reklamieren kann. Das sollte der Sepp nie vergessen.
Außer die üblichen Informationen über Zeitpunkt, Beobachtungen und Befragungen in der Nachbarschaft und der Begutachtung des Schadens, kam von Ulrich nicht viel. Dafür ergoss er sich in Spekulationen, die das Ergebnis des Einsatzes des Kriminaloberkommissars nicht wirklich aufbesserten.
„Sie machen einen Sonntagsausflug auf Kosten der Steuerzahler und liefern nichts? Ulrich, da habe ich mehr erwartet. Was sollen wir nachher der Presse erzählen? Spekulationen weitergeben, oder was?“
Ulrich sank auf seinem Stuhl immer mehr zusammen und konnte dem nichts entgegnen. Soll doch der Chef ihn abkanzeln: Wo nichts war, wollte er auch nichts erfinden. Dietering muss sich damit abfinden, dass weder die Weilham noch irgendein Nachbar mitten in der Nacht irgendetwas beobachteten.
So war es eben, basta!
Wenn es ganz eng wird, hilft auch Murphy nicht: Das hier ist eine Katastrophe für ihn. Zum Glück gab es jemanden, der ausnahmsweise mal nicht das Falsche machte. Eine Negation des Gesetzes von Murphy?
Ohne Anklopfen flog die Tür des Büros auf und Staatsanwalt Stiegermann trat ein. Wie es seine Art war, erwartete er, dass alle Anwesenden ihm die Aufmerksamkeit schenkten. Sein Auftritt. Als Erster drehte sich jedoch Remsen um und schaute aus dem Fenster; hinaus in den mausgrauen Novembersonntag. Leck mich, mehr fiel Remsen nicht ein.
Torsten Stiegermann galt als Überflieger in der Staatsanwaltschaft. Hier in Vesberg sah er seine Aufgabe nur als Übergang an. Kurzfristig und immer auf dem Sprung nach Größerem. Er verspürte keinerlei Lust, einen Tag länger als nötig auf diesem Provinzposten zu verharren. So ging er recht rigoros in seiner Arbeit vor und scheute sich durchaus nicht, auch mal die Falschen anzuklagen. Hauptsache für ihn war, dass seine Ermittler eine hohe Aufklärungsquote lieferten und er fleißig anklagen konnte.
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