Dilettanten waren das und nicht mehr.
Wieder aktivierte er die Maschinerie, denn er wollte absolut sicher sein. Er wählte eine Nummer an. Eine, die er bisher als eiserne Reserve zurückhielt und nie nutzen wollte.
Nachdem der Angerufene sich meldete, begann er auch schon: „Ihr holt sie euch aus dem Haus. Wenn ich das richtig sehe, müsstet ihr im Dunklen über das linke Nachbargrundstück ungesehen rankommen. Euren VAN könnt ihr daneben parken, da müssten ein paar Büsche oder so etwas sein. Betäubt beide und weg damit. So schnell es geht verschwindet ihr mit denen. Ich will keine weitere Leiche im Haus, verstanden? Morgen muss Weilham weg sein, sonst wird es für euch ungemütlich, verstanden? Lenkt die Bullen ab und inszeniert in der Nähe einen Unfall oder eine Schlägerei. Das bekommt ihr wohl noch hin, oder?“
Er legte auf und begab sich in seinen Ankleideraum. Auf der Ablage neben der Tür lag sein Koffer, in den er lustlos und unkonzentriert Wechselsachen warf. Diese Reise wollte er so nicht antreten. Aber er musste die Geschichte jetzt durchziehen, ansonsten wird er selbst eines Tages als Treibgut aus der Nordsee gefischt. Mit seinen Auftraggebern ist nicht zu spaßen.
Sein Flugdienst signalisierte ihm, dass sie noch eine Flugerlaubnis bekamen, wenn er sich beeilen würde und sie innerhalb der ein bis zwei Stunden starten würden.
Zweifel überkamen ihn. Soll er oder soll er nicht? Er überlegte hin und her und irgendwann wischte er alle Gedanken beiseite: Ja, er musste es tun.
Es war schon 20 Uhr durch, als sich in der Geertryt van Oostentraat in Delft ein Garagentor öffnete und ein schwarzer Jaguar XJS sich in Richtung Flughafen auf den Weg machte. Der Fahrer wusste, dass es sehr schwierige Reise, vielleicht seine letzte, werden würde. Aber er trat sie an.
Remsen fühlte sich wohl, so richtig wohl. Er genoss seinen Laphroaig. Getreu seiner Devise, je älter umso besser, zeigte Stahlburg stolz den Ältesten seiner Schätze vor. Und teilte diesen mit ihm.
Oberstudienrat a.D. Dr. Kurt Stahlburg ist einer der wenigen Vertrauten in seiner neuen Heimat. Remsen hatte in einem seiner ersten Fälle in Vesberg mit einem Mord in Verbindung mit illegaler Schwarzarbeit zu tun. Ein Informatikprofessor ist Opfer seines eigenen Geschäftsmodells geworden. Dieser ließ Studenten seines Lehrstuhls für sich arbeiten und kassierte gleichzeitig bei seinen Kunden kräftig ab. Einer seiner Studenten fand das irgendwann nicht mehr witzig und wollte seinen Prof erpressen. Mit Hilfe von Dr. Stahlburg fand Remsen die richtige Spur. Studenten halfen ihm dann, den Fall aufklären.
Remsen ist seitdem mit ihm lose verbunden. Anfangs war Stahlburg noch im aktiven Dienst und leitete eine höhere Berufsfachschule für Informatik. Inzwischen ist er pensioniert und ein äußerst dankbarer Gesprächspartner für Remsen. Stahlburg ist im Alter noch immer rege und beschäftigt sich mit den Verwerfungen nach der Einheit. Er trennt säuberlich zwischen dem, was die Menschen hier erreicht haben und dem, was aus seiner Sicht den Bach runtergegangen ist.
Stahlburg ist ein Kind des Ostens. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs ist er mit seinen Eltern in einem Flüchtlingstreck in der Nähe hängengeblieben. Seine Eltern akzeptierten nie, dass sie aus der Heimat vertrieben wurden. So sahen sie den Aufenthalt in Vesberg nur als Übergang an und planten immer eine Rückkehr. Die Grenzen zogen für sie aber andere und sorgten dafür, dass aus den Plänen nie etwas wurde. Stahlburg machte Karriere in der DDR, obwohl er sich nie als angepasst, schon gar nicht als Mitläufer oder als Eiferer sah. Er konzentrierte sich auf seinen Beruf, ließ sich nicht beirren oder gar anwerben und umschiffte viele Klippen in der Diktatur; etwas geheimnisvoll manchmal, in jedem Fall mit Geschick und etwas Glück.
Mit dem, wie es heute gerne beiläufig heißt, Wendegeschehen, hat er so seine Probleme, noch immer. Was ist hier Mitteldeutschland? Die Mitte von oben und unten oder links und rechts? Stahlburg kam nie und kommt noch immer nicht mit der wenig differenzierten Betrachtung der Entwicklung seit ’89 klar. Für die Zeit der Pensionierung dachte er sich etwas Besonderes aus und machte keinen Hehl daraus: Er wird alles so aufschreiben, wie er es erlebte, es er es sieht und für sich als richtig befindet. Ob das Buch je erscheinen wird, ob es je gelesen wird, war ihm egal. Darauf angesprochen antwortete er, dass es seine Art des Friedenmachens ist.
Remsen holte sich in den Gesprächen mit Dr. Stahlburg Ideen und ließ sich davon leiten, so zu denken, wie es die Leute hier seit vielen Jahren tun und noch nicht so richtig ablegt haben. Stahlburg erläuterte ihm an den besonders langen Abenden, warum Skepsis und Misstrauen noch immer fester Bestandteil der geistigen Kultur in Vesberg und Umgebung sind. Und warum die Menschen hier so sind.
„Was bedrückt Sie Herr Remsen? Heute war ja die Pressekonferenz Ihrer Kollegen. Ich hab davon etwas mitbekommen im Fernsehen und mich schon gefragt, warum Sie nicht dabei waren. Sie sind doch der leitende Ermittler?“
„Ich hatte noch einen Termin für ein Essen. Schon länger, aber heute war mir so, die Einladung anzunehmen.“
Remsen schaute leicht schmunzelnd drein, sodass Stahlburg es eine mehr oder wenige geschickte Ausrede quittierte. Oder war es schon die Wirkung des Whiskys, die bei seinem Gesprächspartner eine aufgesetzt entspannte Stimmung erzeugte?
„Mal ehrlich Herr Remsen, der Staatsanwalt – halten Sie den für gut? So wie er auf die Journalisten losgegangen ist. Wie er sich gibt zeigt doch, dass er nichts in der Hinterhand hat. Dünnheutig, aufgesetzt, gereizt. Das macht man doch nicht. Schon gar nicht im Fernsehen.“
„Seit ich hier bin und mit ihm arbeite, komme ich mit ihm nicht zurecht. Ja, das stimmt. Aber er ist der Staatsanwalt und muss mit unseren Ermittlungsergebnissen umgehen können. Kann er aber nicht immer und versucht deshalb unsere Arbeit zu beeinflussen und sich dabei gleich noch zu profilieren.“
„Sie meinten wohl, Sie müssen zusammenarbeiten. Immerhin ist ein Procurator fast Ihr Vorgesetzter. Sie müssen sich arrangieren, denke ich.“
Remsen hielt noch immer sein Whiskyglas in der Hand. Mit beiden Händen tat er so, als wollte er das flüssige Gold darin wärmen und für immer und ewig konservieren. Nach einigem Nachdenken entschloss er sich für einen weiteren Schluck. Die Flüssigkeit drang durch seine Kehle sehr schnell bis in die Magengegend und wärmte ihn durch. Ein angenehmes und Remsen wohliges Gefühl. Mit einer Antwort ließ er sich Zeit.
„So ein Karrieretyp liegt mir einfach nicht. Stiegermann macht alles, um die Fälle möglichst schnell abzuschließen und manchmal klagt er einfach Unschuldige an. Hauptsache ‚Ergebnis‘ und ‚abgeschlossen‘. Überhaupt nicht fein ist er. Nein, der Mann ist mir nicht nur unsympathisch, er ist ein Widerling.“ Remsen setzte an und kippte einen weiteren Schluck Whisky in sich hinein. Er kannte sich und verspürte so nach und nach eine Wirkung seines Lieblingsgetränks.
„Wissen Sie, die Leute hier denken entweder ganz zurückhaltend, fast noch devot und unterwürfig oder ganz die Macher. So oder so! Das ist anders als bei Ihnen in Hamburg. Wenn wir hier früher nicht Mitläufer waren, mussten wir uns eine Strategie ausdenken, um nicht in die Fänge der Staatssicherheit und in deren Gefängnissen zu landen. Dieses perfide System machte es möglich, dass es selbst in Familien Spitzel gab; ja sogar Ehepartner sich dafür hergaben, ihre bessere Hälfte zu denunzieren. Wenn es sein musste mit Fotos und anderen Beweisen, sogar in ganz intimen Situationen. Schlimm nicht?“
Remsen dachte darüber nach, was Dr. Stahlburg gerade Gesagte. Er fand darauf keine Antwort, denn er war nicht von hier und wollte sich nicht darauf einlassen, zu verstehen, warum die Leute so sind.
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