„Wo war Ihr Mann gestern Abend, Frau Weilham?“ Kriminaloberkommissar Ulrich wollte sich in das Gespräch einbringen; eher wichtigmachen, dachte sich Remsen, denn Fragen wiederholt man in einem Interview nicht.
So glich Remsen selbst diesen Fauxpas aus: „Hier zu Hause und ist heute früh zu seinem freien Tag aufgebrochen. Ist mit dem Auto und dem Rad unterwegs.“ Zu Frau Weilham gewandt: „Frau Weilham: Wissen Sie, wann er wieder hier ist? Ist er auf seinem Handy erreichbar?“
Jetzt schaute Remsen seinen Kollegen an, denn der müsste wissen, ob vorhin Nöthe und Frau Weilham ihn erreichen konnten. Gib wenigstens ein Zeichen Hansi! Er tat es tatsächlich, nickte kurz, nur für Remsen wahrnehmbar. Sein Grinsen im Mundwinkel signalisierte, dass er erkannte, in welche Situation sich Remsen selbst manövrierte. Der spekulierte und versuchte seine Wissenslücken vom Nachmittag zu überbrücken. Immerhin verfügte Ulrich von Nöthe Informationen aus erster Hand. Hätte Remsen geahnt, dass Nöthe nichts zu vermelden hatte und Ulrich auch nicht mehr als er wusste, wäre er sicher forscher vorgegangen.
„Meist am frühen Abend. Er schaut gerne die Sportschau und verfolgt die Bundesliga. Wird wohl bald hier sein; seine Bayern müssten heute wieder dran sein.“
„Nah dran, die spielen erst morgen gegen Nürnberg.“ Ulrich strahlte. In der Bundesliga kannte er sich auch; hatte ihm doch sein alter Herr zum Eintritt zum 50. ein Jahres Abo von dem Pay TV Sender geschenkt, der alle Spiele live überträgt. Seitdem ist Hanns-Peter ein wandelnder Statistiker.
Remsen war beeindruckt. Ja, gelegentlich schaute auch er Fußball. Seit St. Pauli wieder oben mitspielt, interessierte er sich etwas mehr dafür. „Könnte also noch etwas dauern?“
Das Gespräch war seltsamerweise ins Stocken geraten. Bisher wissen sie nur, dass ein Firmenwagen der CodeWriter gestern in den Unfall verwickelt war. Und dass die Insassen ermordet wurden. Mehr erzählten sie der Weilham auch nicht, man weiß ja nie. Wie es aussah, hielt Nöthe dicht und zerstörte nicht gleich mit einem Anfängerfehler die übliche Vernehmungstaktik.
„Frau Weilham, wir müssen noch mal auf ihren Sohn zurückkommen. Wissen Sie, ob er gestern unterwegs war, wo er jetzt ist? Wir müssen auch ihn vernehmen.“
„Das sollte kein Problem sein, er eigentlich ist er mit Eva und Paul zu Hause. Heute bei dem Wetter macht es draußen ohnehin keinen Spaß. Die wohnen zwei Straßen weiter unten. Ich kann ja mal anrufen…“
„Nein, nein – wir gehen dort gleich mal vorbei.“
Remsen liebte Überraschungseffekte, denn sie brachten ihm Vorteile. Gerade bei der Erstvernehmung kommt es darauf an, dass für die Betroffenen keine Zeit der Vorbereitung blieb. Selbst wenn der Befragte wenige Minuten Zeit fand, sich auf Vernehmungen einzustellen, könnten die Ermittlungen unendlich lange dauern. So seine Erfahrungen, auf die er auch dieses Mal bauen würde.
„Könnten Sie aber bitte noch meine Frage beantworten?“ Remsen war nicht gerade ein geduldiger Mensch und Frau Weilham war nur bedingt auskunftsfreudig, weshalb sie erneut die Abwehrhaltung einnahm. „Welche meinen Sie denn? Wo er gestern war oder wo er sich jetzt aufhält?“
Bevor Remsen in die Luft gehen konnte, kam ihm Ulrich zuvor: „Beide bitte, wenn es keine Umstände macht.“ Der Seitenhieb saß, denn Frau Weilham merkte, dass ihre Art des Zeitspiels bei beiden Kommissaren auf keine Gegenliebe stieß. Hoffentlich kommt der Georg gleich. Was interessiert mich das Firmenauto und eine unbekannte Tote?
„Soweit ich es mitbekommen habe, war Carsten in der letzten Woche zu einem Kundentermin unterwegs. Bitte nicht fragen, ich weiß nicht wo und habe auch keine Ahnung bis wann. Er müsste gestern oder vorgestern zurückgekommen sein. Warum auch nicht?“
Sie verzögerte die nächste Aussage, weil sie nicht nur Zeit gewinnen wollte, sondern weil sie natürlich nicht wusste, was Carsten und Eva heute machen. Manchmal fahren sie auch ganz spontan übers Wochenende zu Freunden.
„Ob Carsten zu Hause ist, kann ich nicht sagen. Wenn sie wegfahren, mal für ein, zwei Tage, fragen sie mich nicht extra – sie machen es einfach.“
Remsen und Ulrich schauten sich nur kurz an und wussten, was der jeweils andere dachte. Auch wenn beide sowas von grundverschieden waren und sich nur bedingt mochten; sie waren Partner und Profis bei der Arbeit.
Remsen stand auf: „Frau Weilham, mein Kollege bleibt bei Ihnen, er hat noch einige Fragen an Sie. Ich schaue mal bei Ihrem Sohn vorbei. Könnten Sie mir bitte die genaue Adresse geben und mir den Weg beschreiben?“
Frau Weilham ging mit Remsen zur Tür, nannte die Straße und Hausnummer und zeigte ihm den Weg dorthin. Remsen bedankte sich und war froh, einige Minuten frische Luft zu schnuppern und in Ruhe nachzudenken.
Er fand das Haus der jungen Weilham‘s dunkel vor. Eigenartigerweise empfand es das überhaupt nicht dramatisch, denn wenn keiner da ist, wird auch keiner vermisst. Remsen sinnierte über zwei, ihm logische Szenarien: Wenn Carsten Weilham gestern in dem Auto saß und hier zu Hause nicht angekommen ist, würde seine Frau doch hier sein und warten. Und wahrscheinlich wüsste, dass Cordula Weilham auch. Das für ihn wahrscheinlichere Szenario war demnach aber, dass Carsten Weilham gestern bei seiner Familie war und diese heute einen ganz normalen Sonnabend verlebte, irgendwo auf dieser Welt, nur nicht hier in seinem Haus.
Trotzdem klingelte er, einmal, zweimal, mehrmals. Inzwischen wurde es dunkel; an einem Tag, an dem es ohnehin nicht richtig hell geworden ist; kalt war es auch. Nichts regte sich, kein Licht ging an. Er schlich um das Haus, ein Hund war weder zu sehen noch zu hören; auf eine Begegnung mit einem Vierbeiner hatte er nun wirklich keine Lust. Auch von hinten sah das Haus ziemlich verlassen aus. Okay, wieder zurück zur Plauderrunde mit Hansi.
In Gedanken spielte er die Optionen durch, die ihn jetzt blieben. Solange der Weilham nicht wiederauftaucht, kommen wir nicht weiter. Hausmann ist im Urlaub, Südamerika, da wird sich vorerst auch nichts tun. Wir sollten das einmal überprüfen, ob der Mann wirklich dort unten ist.
„Kundoban.“ Gleich nach dem ersten Klingeln war sie dran.
„Haben wir schon überprüft, ob Hausmann wirklich in Südamerika ist. Visum? Flugbuchungen? Ausreisen, usw.?“
„Jan, wir sind dran, haben aber bisher noch nichts gehört. Kommt Ihr voran?“
„Nein, nicht wirklich. Die Weilham weiß fast nichts, zumindest tut sie so. Der Alte ist noch auf Selbstfindung und beim Junior ist das Haus dunkel. Haben wir schon Informationen von der Bundespolizei? Ist gestern Abend an eine der Grenzübergangstellen der Audi auf wenigstens einer Überwachungskamera aufgetaucht?“
„Fehlanzeige bisher. Wir haben erst von zwei kleineren Übergängen das Material von gestern Abend erhalten; vom Autobahnübergang dauert es leider länger. Die haben mehr Kameras, Schichtwechsel usw. Wir wurden auf heute Abend vertröstet.“
Kundoban war noch mitten beim Sprechen, als sie das Freizeichen in der Leitung wahrnahm. Remsen hatte bereits aufgelegt.
Komischer Kauz!
So komisch, dass Kundoban auch fand, Remsens Aufmerksamkeit war schlagartig verflogen, als ein schwarzer SUV auf das Haus von Weilham jun. zusteuerte. Im Auto saßen zwei Frauen, soweit das erkennbar war. Ausgelöst von der Fernsteuerung ging das Tor genau in dem Moment auf, indem der SUV recht zügig auf das Grundstück einbog und in der Garage verschwand. Das Tor schloss sich nach kurzer Zeit selbst wieder. Von außen war zunächst nicht zu bemerken, dass jetzt jemand im Haus war. Remsen wollte noch etwas warten; vielleicht ging im Haus das Licht an, sodass klar erkennbar war, dass sich jemand darin befindet.
So war es denn nach einigen Minuten auch. Gleichzeitig wurden an allen Fenstern gleichzeitig die Jalousien heruntergelassen. Remsen machte sich fertig, um wohl wieder eine der bedrückendsten Aufgaben in seinem Job zu erledigen: Die Übergabe einer äußerst schlechten Nachricht an einen nahen Verwandten. Ob der Tote im Wald wirklich Carsten Weilham ist, muss noch geklärt werden.
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