Man sollte niemals vor Kindern über Geheimnisse sprechen, denn man kann sicher sein, dass sie erheblich mehr verstehen, als angemessen wäre; das Sprichwort „kleine Leute haben große Ohren“ ist auf wunderbare Weise wahr. Der kleine Lord Vane streckte Mr. Carlyle die Hand entgegen.
„Isabel hat mir heute Morgen gesagt, sie wird von uns weggehen. Soll ich Ihnen sagen, warum? Mama hat sie gestern geschlagen, als sie wütend war.“
„Still, William!“, unterbrach ihn Lady Isabel mit feuerrotem Gesicht.
„Zwei große Klapse auf die Wangen“, fuhr der junge Adlige fort; „und Isabel hat so geschrien, und ich habe gekreischt, und dann hat Mama mich auch gehauen. Aber Jungen sind so gemacht, dass man sie verhauen kann; das sagt das Kindermädchen. Marvel ist ins Kinderzimmer gekommen, als wir Tee getrunken haben, und hat dem Kindermädchen davon erzählt. Sie sagt, Isabel sieht zu gut aus, und deshalb kann Mama …“
Isabel unterbrach den Redefluss des Kindes, läutete heftig, zog ihn zur Türe und ließ ihn von der Dienerin, die erschienen war, ins Kinderzimmer bringen.
Mr. Carlyles Blicke waren voller empörten Mitgefühls. „Ist das wahr?“, fragte er mit leiser Stimme, als sie zu ihm zurückkehrte. „Sie brauchen tatsächlich einen Freund.“
„Ich muss mein Los ertragen“, erwiderte sie und gab damit dem Impuls nach, der sie veranlasste, sich Mr. Carlyle anzuvertrauen. „Zumindest bis Lord Mount Severn zurückkommt.“
„Und dann?“
„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie, wobei die widerspenstigen Tränen ihr schneller in die Augen stiegen, als sie sie herunterschlucken konnte. „Er kann mir kein anderes Zuhause bieten; aber bei Lady Mount Severn kann und werde ich nicht bleiben. Sie würde mir das Herz brechen, wie sie mir schon beinahe den Mut gebrochen hat. Das habe ich von ihr nicht verdient, Mr. Carlyle.“
„Nein, das haben Sie ganz sicher nicht“, erwiderte er liebenswürdig. „Ich würde Ihnen so gern helfen! Was kann ich tun?“
„Sie können nichts tun“, sagte sie. „Was kann überhaupt irgendjemand tun?“
„Ich würde Ihnen sehr, sehr gern helfen!“, wiederholte er. „East Lynne war für Sie alles in allem kein angenehmes Zuhause, aber es scheint, als hätten Sie es noch schlechter getroffen, nachdem Sie es verlassen haben.“
„Kein angenehmes Zuhause?“, fragte sie. Die Erinnerungen erschienen ihr in diesem Augenblick köstlich, aber man muss daran denken, dass alle Dinge im Vergleich beurteilt werden. „Doch, es war angenehm; ein so angenehmes Zuhause werde ich nie wieder haben. Mr. Carlyle, machen Sie mir East Lynne nicht verächtlich! Würde ich doch nur erwachen und feststellen, dass die letzten Monate nichts anderes als ein böser Traum waren! Dass ich meinen lieben Vater lebendig wiederfinden könnte! Dass wir immer noch friedlich in East Lynne leben. Das wäre für mich heute ein wahres Paradies.“
Was sollte Mr. Carlyle darauf sagen? Welches Gefühl brachte seine Miene in Bewegung, hemmte seinen Atem und färbte sein Gesicht blutrot? Sein Schutzengel wachte sicher nicht über ihm, sonst wären diese Worte nie gesprochen worden.
„Es gibt nur einen Weg“ begann er, wobei er ihre Hand nahm und nervös damit spielte, vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein. „Nur einen Weg, wie Sie nach East Lynne zurückkehren könnten. Und dieser Weg – vielleicht sollte ich mir nicht die Freiheit erlauben, darauf hinzuweisen.“
Sie sah ihn an und wartete auf eine Erklärung.
„Wenn meine Worte Sie beleidigen, Lady Isabel, gebieten Sie ihnen Einhalt, wie meine Dreistigkeit es verdient, und verzeihen Sie mir. Darf ich … darf ich es wagen … Ihnen anzubieten, dass sie nach East Lynne als Hausherrin zurückkehren?“
Sie begriff nicht im Mindesten, was er meinte: Der Inhalt seiner Worte dämmerte ihr überhaupt nicht. „Nach East Lynne als Hausherrin zurückkehren?“, wiederholte sie in völliger Verblüffung.
„Und als meine Ehefrau?“
Jetzt gab es keine Möglichkeit des Missverstehens mehr. Schreck und Überraschung waren groß. Sie hatte hier an Mr. Carlyles Seite gestanden, hatte im Vertrauen mit ihm gesprochen, ihn hoch geschätzt und ein Gefühl gehabt, als sei er ihr aufrichtigster Freund auf Erden. Sie hatte im Herzen an ihm gehangen wie an einem mächtigen Ort der Zuflucht, hatte ihn fast so geliebt, wie sie einen Bruder lieben würde, hatte zugelassen, dass ihre Hand in der seinen blieb. Aber seine Ehefrau zu sein! Der Gedanke hatte sich ihr bis zu diesem Augenblick nie in irgendeiner Form dargestellt; das erste Gefühl in ihr war der völlige Widerspruch, und ihre erste Bewegung, um ihn auszudrücken, bestand in dem Versuch, sich selbst und ihre Hand von ihm zurückzuziehen.
Aber es geschah nicht; Mr. Carlyle ließ es nicht zu. Er hielt nicht nur diese Hand fest, sondern nahm auch die andere und sprach jetzt, da das Eis gebrochen war, beredte Worte der Liebe. Keine inhaltslosen, wohlklingenden Phrasen von Herz und Schmerz und dass er für sie sterben würde, wie ein anderer sie vielleicht geäußert hätte, sondern ernste, aus dem Innersten kommende Worte der tiefen Zärtlichkeit, die darauf berechnet waren, nicht nur ihre Ohren und ihr Herz zu gewinnen, sondern die guten Seiten der Seele; und wäre ihre Fantasie nicht von jenem „anderen“ erfüllt gewesen, sie hätte möglicherweise hier und jetzt Ja gesagt.
Plötzlich wurden sie unterbrochen. Lady Mount Severn trat ein und begriff die Szene auf den ersten Blick, verstand Mr. Carlyles gebeugte Haltung der Ehrerbietung, seine Umklammerung der Hände und Isabels verblüffte, errötete Miene. Sie warf den Kopf und ihre kleine, vorwitzige Nase in die Höhe und blieb auf dem Teppich wie angewurzelt stehen; ihr eisiger Blick verlangte so offensichtlich eine Erklärung, wie ein Blick es nur kann. Mr. Carlyle wandte sich zu ihr, und um Isabel zu verschonen, stellte er sich selbst vor. Isabel hatte gerade noch die Geistesgegenwart, den Namen zu nennen: „Lady Mount Severn.“
„Es tut mir leid, dass Lord Mount Severn abwesend ist, denn ich habe die Ehre, ihn zu kennen“, sagte er. „Ich bin Mr. Carlyle.“
„Ich habe von Ihnen gehört“, erwiderte ihre Ladyschaft, wobei sie sein gutes Aussehen musterte und verärgert war, dass er seine Ehrerbietung da erwies, wo sie erwiesen wurde, „aber ich habe noch nicht gehört, dass Sie und Lady Isabel in einem Verhältnis so außerordentlicher Vertraulichkeit stehen, dass … dass …“
„Madam“, unterbrach er sie, während er ihr einen Stuhl gab und selbst auf einem anderen Platz nahm, „wir standen nie in einem Verhältnis außerordentlicher Vertraulichkeit. Ich habe Lady Isabel gerade gebeten, dies zuzulassen; ich habe sie gebeten, meine Frau zu werden.“
Das Geständnis war für die Gräfin wie ein Balsamschauer, und ihre üble Laune verwandelte sich in Sonnenschein. Hier war die Lösung für ihre große Schwierigkeit, das Schlupfloch, durch das sie ihre bete noire, die verhasste Isabel, loswerden konnte. Eine Welle der Dankbarkeit erleuchtete ihr Gesicht, und auf einmal war sie gegenüber Mr. Carlyle die Liebenswürdigkeit selbst.
„Wie zutiefst dankbar muss Isabel Ihnen sein“, säuselte sie. „Ich spreche ganz offen, Mr. Carlyle, denn ich weiß, dass Ihnen bekannt ist, in welch schutzlosem Zustand sie durch die Leichtfertigkeit des Earl zurückgeblieben ist, sodass eine Ehe – jedenfalls eine Ehe in höheren Schichten – für sie fast nicht infrage kommt. Ich habe gehört, East Lynne sei ein wunderschöner Ort.“
„Jedenfalls für seine Größe; es ist nicht groß“, erwiderte Mr. Carlyle, während er sich erhob, denn Isabel hatte sich ebenfalls erhoben und kam auf ihn zu.
„Und wie, bitte, lautet Lady Isabels Antwort?“, fragte die Gräfin schnell, wobei sie sich ihr zuwandte.
Isabel ließ sich nicht dazu herab, ihr eine Antwort zu geben, sondern wandte sich zu Mr. Carlyle und sprach leise mit ihm.
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