Als Lord Mount Severn nach London und zu dem Hotel kam, in dem die Vanes abzusteigen pflegten, war das Erste, worauf sein Blick fiel, seine eigene Ehefrau, von der er geglaubt hatte, sie befinde sich in Sicherheit im Castle Marling. Er erkundigte sich nach dem Grund.
Lady Mount Severn machte sich mit Erklärungen wenig Mühe. Sie sei seit einem oder zwei Tagen hier, könne ihre Trauerangelegenheiten persönlich besser ordnen, und William schien es nicht gut zu gehen, deshalb habe sie ihn wegen des Luftwechsels mitgebracht.
„Ich bedaure sehr, dass du nach London gekommen bist, Emma“, bemerkte der Earl, nachdem er alles gehört hatte. „Isabel ist heute nach Castle Marling gereist.“
Lady Mount Severn hob ruckartig den Kopf. „Was will sie dort?“
„Es ist eine ganz und gar erbärmliche Angelegenheit“, gab der Earl zurück, ohne unmittelbar auf die Frage zu antworten. „Mount Severn ist ärmer als ein Bettler gestorben, und für Isabel ist kein einziger Schilling mehr da.“
„Es war nie damit zu rechnen, dass viel übrig bleiben würde.“
„Aber da ist nichts – kein einziger Penny; nichts für ihre eigenen persönlichen Auslagen. Ich habe ihr heute ein oder zwei Pfund gegeben, denn sie war vollkommen mittellos!“
Die Gräfin riss die Augen auf. „Wo soll sie wohnen? Was soll aus ihr werden?“
„Sie muss bei uns wohnen. Sie …“
„Bei uns!“, unterbrach ihn Lady Mount Severn, wobei ihre Stimme fast an ein Schreien grenzte. „Niemals!“
„Sie muss, Emma. Es gibt keinen anderen Ort, an dem sie leben könnte. Ich hatte die Pflicht, so zu entscheiden; und wie ich schon sagte, ist sie heute nach Castle Marling gereist.“
Lady Mount Severn wurde blass vor Wut. Sie erhob sich von ihrem Platz und blickte ihrem Mann, den Tisch zwischen ihnen, ins Gesicht. „Hörʼ zu, Raymond. Ich will Isabel Vane nicht unter meinem Dach haben. Ich hasse sie. Wie konntest du dich beschwatzen lassen, in so etwas einzuwilligen?“
„Ich wurde nicht beschwatzt und nicht um eine Einwilligung gebeten“, gab er sanft zurück. „Ich habe es vorgeschlagen. Wo sollte sie sonst hingehen?“
„Es kümmert mich nicht, wo sie hingeht“, lautete die halsstarrige Erwiderung. „Jedenfalls nicht zu uns.“
„Sie ist jetzt schon in Castle Marling – ist dorthin als zu ihrem Zuhause gereist“, sagte der Earl. „Und wenn du zurückkommst, wirst selbst du es kaum wagen, sie auf die Straße oder ins Arbeitshaus zu schicken. Sie wird dir nicht lange zur Last fallen“, fuhr der Earl unbekümmert fort. „Ein so liebreizendes Mädchen wie Isabel wird sicher früh heiraten; und sie scheint mir das sanftmütigste, liebenswürdigste Mädchen zu sein, das ich jemals gesehen habe. Ob das deine Abneigung gegen sie lindern kann, wage ich nicht zu vermuten. So mancher Mann wäre bereit, ihren Mangel an Vermögen um ihres Gesichts willen zu vergessen.“
„Sie soll den Ersten heiraten, der sie fragt“, fauchte die wütende Lady zurück. „Dafür werde ich sorgen.“
Kapitel 12 Leben auf Castle Marling
Isabel wohnte ungefähr seit zehn Tagen in ihrem neuen Zuhause, da trafen Lord und Lady Mount Severn in Castle Marling ein. Das Haus war kein Schloss, wie man meinen könnte, sondern der Name bezeichnete eine Kleinstadt, die fast unmittelbar an ihren Wohnsitz, ein kleines Anwesen, angrenzte. Lord Mount Severn hieß Isabel willkommen; Lady Mount Severn tat es höflichkeitshalber ebenfalls, aber ihr Betragen war dabei so abstoßend, so unverschämt herablassend, dass es ein empörtes Rot in die Wangen von Lady Isabel trieb. Und wenn das schon bei ihrem ersten Zusammentreffen geschah, was würde man wohl meinen, wie es weiterging? Sie wurde mit anzüglichen Beleidigungen, kleinlichen Kränkungen und abschreckenden Schikanen überhäuft, die ihr Durchhaltevermögen bis zum Äußersten strapazierten; wenn sie allein war, rang sie die Hände und wünschte sich leidenschaftlich, sie könne eine andere Zuflucht finden.
Der Earl und die Gräfin hatten zwei Söhne, und der jüngere der beiden, der immer ein zartes Kind gewesen war, starb im Februar. Das bedeutete für ihre Pläne eine gewisse Veränderung. Statt zu Ostern nach London zu reisen, wie man es vorgehabt hatte, würden sie nun erst im Mai fahren. Der Earl hatte einen Teil des Winters auf Mount Severn verbracht, um dort die Reparaturen und Renovierungsarbeiten zu beaufsichtigen. Im März fuhr er nach Paris und war dabei voller Kummer wegen des Verlusts seines Sohnes – sein Kummer war viel größer als jener, den Lady Mount Severn empfand.
Der April rückte heran, und mit ihm kam Ostern. Zum unverhohlenen Missfallen von Lady Mount Severn schrieb ihr ihre Großmutter, Mrs. Levison, sie brauche eine Luftveränderung und werde Ostern bei ihr in Castle Marling verbringen. Lady Mount Severn hätte ihre Diamanten dafür gegeben, um den Besuch herumzukommen, aber es gab kein Entrinnen – und die Diamanten hatten einst Isabel gehört, oder zumindest hatte Isabel sie getragen. Am Montag der Karwoche traf die alte Dame ein, und mit ihr kam Francis Levison. Andere Gäste hatten sie nicht. Bis Karfreitag verlief alles ziemlich reibungslos.
Am Nachmittag des Karfreitags schlenderte Isabel mit dem kleinen William Vane nach draußen; Captain Levison schloss sich ihnen an, und als sie zurückkehrten, war es schon fast Zeit zum Abendessen. Die drei traten gemeinsam ins Haus, wo Lady Mount Severn die ganze Zeit Buße getan und ihre Wut gegen Isabel gepflegt hatte, weil Mrs. Levison sie drinnen festgehalten hatte. Es blieb kaum Zeit, um sich zum Abendessen umzukleiden, und Isabel ging geradewegs in ihr Zimmer. Sie legte das Kleid ab und zog den Morgenmantel an. Marvel war mit ihren Haaren beschäftigt, und William plapperte auf ihrem Knie, da wurde die Tür aufgerissen, und Mylady trat ein.
„Wo sind Sie gewesen?“, verlangte sie zu wissen, wobei sie vor Leidenschaft zitterte. Isabel kannte die Anzeichen.
„Ich bin im Strauchgarten und auf dem Gelände spazieren gegangen“, antwortete Isabel.
„Wie können Sie es wagen, sich so zu blamieren!“
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Isabel, wobei ihr Herz unangenehm zu pochen begann. „Marvel, du ziehst an meinen Haaren.“
Wenn Frauen, die zu ungehemmten Ausbrüchen der Leidenschaft neigen, die Zügel schießen lassen, wissen sie oft nicht mehr, was sie sagen, und es kümmert sie auch nicht. Lady Mount Severn brach in eine Flut von Vorwürfen und Beschimpfungen aus, die meisten davon erniedrigend und durch nichts zu rechtfertigen.
„Es reicht nicht, dass man Ihnen Unterschlupf in meinem Haus gewährt hat, sondern Sie müssen es auch noch blamieren! Drei Stunden haben Sie sich zusammen mit Francis Levison versteckt! Von dem Augenblick an, da er gekommen ist, haben Sie nichts anderes getan als ihm schöne Augen zu machen; und auch zu Weihnachten war es nicht anders.“
Der Angriff war noch länger und weiter gefasst, aber dies war seine wesentliche Aussage, und sie stachelte Isabel zum Widerspruch an, zu einer Wut, die kaum weniger groß war als die der Gräfin. So etwas! – und dann auch noch vor ihrer Bediensteten! Sie, die Tochter eines Earl und von viel höherer Geburt als Emma Mount Severn, musste sich wegen der wahnhaften Eifersucht einer anderen so beleidigend beschuldigen lassen. Isabel riss Marvel ihre Haare aus der Hand, erhob sich und stellte sich der Gräfin gegenüber, wobei sie sich zu einer ruhigen Stimme zwang.
„Ich mache keine schönen Augen!“, sagte sie. „Ich habe noch nie jemandem schöne Augen gemacht. Das überlasse ich“ – und sie konnte den Hohn, den sie spürte, in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken – „verheirateten Frauen; allerdings scheint mir, dass dies bei ihnen eher ein verzeihlicher Fehler ist als bei Alleinstehenden. Seit ich hier wohne, gibt es unter den Bewohnerinnen dieses Hauses nur eine, die schöne Augen macht, so weit ich gesehen habe; bin ich das oder sind Sie das, Lady Mount Severn?“
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