Die intime Wahrheit blieb bei ihrer Ladyschaft nicht ohne Wirkung. Sie wurde weiß vor Wut, vergaß ihre Manieren, hob die rechte Hand und versetzte Isabel einen heftigen Schlag auf die linke Wange. Verwirrt und erschrocken vor Schmerzen, blieb Isabel stehen, und bevor sie noch sprechen oder handeln konnte, erhob sich die linke Hand von Mylady zur anderen Wange und schlug auch sie. Lady Isabell zitterte wie von plötzlicher Kälte und schrie auf – ein spitzer, schneller Schrei. Sie bedeckte ihr wütendes Gesicht mit den Händen und sank auf den Ankleidestuhl. Marvel warf vor Entsetzen die Hände in die Luft, und William Vane hätte auch nicht in heftigeres Geschrei ausbrechen können, wenn er selbst geschlagen worden wäre. Der Junge – er war von sensiblen Wesen – hatte Angst.
Mein lieber Leser, gehören Sie zu den Unerfahrenen, die ihre Vorstellungen vom „Leben der besseren Kreise“ nur aus den Romanen in einer Bibliothek beziehen, die deren hoch gestochenen Inhalt für ein Evangelium halten und mit religiösem Eifer glauben, Lords und Ladys würden ausschließlich nach den Regeln des guten Benehmens in höheren Sphären leben, sprechen, essen, sich bewegen und atmen? Stehen Sie wie so viele andere unter dem Wahn, Herzöge und Herzoginnen würden ihre Tage nur damit verbringen, über „Bilder, Geschmack, Shakespeare und die Glasharmonika“ zu sprechen? Glauben Sie, diese seien nur an höflichen Silberdrähten aufgehängt und könnten den Zügeln nicht entkommen, nie Wutausbrüchen und ungewöhnlichen Worten Luft verschaffen, wie gewöhnliche Sterbliche es tun? Nein: So wird es erst dann sein, wenn der Große Schöpfer es für angemessen hält, Männer in die Welt zu schicken, die frei von unheilvollem Temperament, bösen Leidenschaften und den Sünden sind, die wir seit Adams Fall geerbt haben.
Lady Mount Severn brachte die Szene zum Abschluss, indem sie William wegen seines Lärms einen Faustschlag versetzte, ihn aus dem Zimmer stieß und ihm sagte, er sei ein Affe.
Isabel Vane durchlebte eine endlose Nacht voller Tränen des Ärgers und der Empörung. In Castle Marling konnte sie nicht bleiben – wer hätte das nach einem so empörenden Auftritt getan? Aber wohin sollte sie gehen? Fünfzigmal während der Nacht wünschte sie sich, sie würde neben ihrem Vater liegen, denn die Gefühle gewannen die Oberhand über ihre Vernunft; in ruhigen Augenblicken wäre sie vor dem Gedanken an den Tod zurückgeschreckt, wie es sich für junge, gesunde Menschen gehört.
Am Samstagmorgen erhob sie sich schwach und träge – die Auswirkungen einer kummervollen Nacht –, und Marvel brachte ihr das Frühstück herauf. Danach schlich sich William Vane in ihr Zimmer; er hing in bemerkenswert starkem Maße an ihr.
„Mama geht aus“, rief er im Laufe des Vormittags aus. „Sieh mal, Isabel.“
Isabel ging zum Fenster. Lady Mount Severn saß in der Ponykutsche, Francis Levison lenkte.
„Jetzt können wir nach unten gehen, Isabel, es ist niemand da.“
Sie stimmte zu und ging mit William hinunter; aber sie saßen kaum im Salon, da trat ein Diener mit einer Karte auf einem Silbertablett ein.
„Mylady, ein Gentleman wünscht Sie zu sehen.“
„Mich zu sehen!“, gab Isabel überrascht zurück. „Oder Lady Mount Severn?“
„Er hat nach Ihnen gefragt, Mylady.“
Sie griff nach der Karte. „Mr. Carlyle.“ „Oh“, stieß sie in einem Ton der freudigen Überraschung hervor, „führen Sie ihn herein.“
Es ist seltsam, nein, geradezu abstoßend, den Faden im Leben eines Menschen zu verfolgen; zuzusehen, wie die banalsten Vorkommnisse zu den größten Ereignissen des Daseins führen und Glück oder Elend, Wohl und Wehe mit sich bringen. Ein Mandant von Mr. Carlyle war gerade auf dem Weg von einem Teil Englands zum anderen gewesen und wurde durch eine Krankheit in Castle Marling festgehalten – eine schwere Krankheit, so schien es, die Ängste vor dem Tod heraufbeschwor. Er hatte seine Angelegenheiten noch nicht geregelt, wie man so sagt, und man hatte eilig nach Mr. Carlyle telegrafiert, damit er das Testament aufsetzte und andere Privatsachen erledigte. Für Mr. Carlyle schien die Reise ein sehr einfacher Vorgang zu sein, und doch war sie dazu bestimmt, zu Ereignissen zu führen, die erst mit seinem eigenen Leben ihr Ende finden sollten.
Mr. Carlyle trat ein, wie immer der ungekünstelte Gentleman mit seiner edlen Gestalt, seinem attraktiven Gesicht und den hängenden Augenlidern. Isabel trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen; sie streckte die Hand aus, und ihre ganze Haltung verriet ihre Freude.
„Das kommt wirklich unerwartet“, rief sie aus. „Ich bin höchst erfreut, Sie zu sehen.“
„Geschäfte haben mich gestern nach Castle Marling geführt, und ich konnte den Ort nicht wieder verlassen, ohne bei Ihnen vorzusprechen. Wie ich höre, ist Lord Mount Severn abwesend.“
„Er ist in Frankreich“, erwiderte sie. „Ich habe gesagt, wir würden uns noch einmal wiedersehen; erinnern Sie sich, Mr. Carlyle? Sie…“
Isabel hielt plötzlich inne; bei dem Wort „erinnern“ erinnerte auch sie sich an etwas – an die Hundert-Pfund-Note, und was sie sagen wollte, blieb ihr im Hals stecken. Sie wurde immer verwirrter, denn leider hatte sie die Banknote gewechselt und teilweise ausgegeben. Wie hätte sie Lady Mount Severn um Geld bitten sollen? Und der Earl war fast immer weit weg. Mr. Carlyle erkannte ihre Verlegenheit, nahm aber die Ursache wahrscheinlich nicht wahr.
„Was für ein hübscher Junge!“, rief er und sah das Kind an.
„Das ist Lord Vane“, sagte Isabel.
„Ein aufrichtiger, ernster Charakter, da bin ich sicher“, fuhr er fort und blickte auf den offenherzigen Gesichtsausdruck. „Wie alt bist du, kleiner Mann?“
„Ich bin sechs, Sir, und mein Bruder war vier.“
Isabel beugte sich zu dem Kind hinunter – ein Vorwand, um ihre Verblüffung zu verbergen. „Du kennst diesen Gentleman nicht, William. Das ist Mr. Carlyle. Er war sehr freundlich zu mir.“
Der kleine Lord hatte seinen gedankenvollen Blick auf Mr. Carlyle gerichtet und studierte offensichtlich dessen Gesichtsausdruck. „Ich mag Sie, Sir, wenn Sie nett zu Isabel sind. Sind Sie nett zu ihr?
„Sehr, sehr nett“, murmelte Isabel, kehrte William den Rücken zu und wandte sich zu Mr. Carlyle, ohne ihn aber anzusehen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll; ich sollte Ihnen danken. Ich hatte nicht die Absicht, dass … es zu verwenden; aber ich … ich …“
„Pssst!“, unterbrach er sie und lachte über ihre Verwirrung. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe Ihnen ein großes Unglück mitzuteilen, Lady Isabel.“
Sie hob den Blick und ihre glühenden Wangen, die durch ihre eigenen Gedanken ein wenig erregt waren.
„Zwei Ihrer Fische sind tot. Die goldenen.“
„Wirklich?“
„Ich glaube, sie sind durch den Frost gestorben; ich weiß nicht, woran es sonst gelegen haben könnte. Sie erinnern sich doch sicher noch an die eisigen Tage im Januar; damals sind sie gestorben.“
„Es war sehr freundlich von ihnen, dass Sie sich die ganze Zeit darum gekümmert haben. Wie sieht es in East Lynne aus? Das liebe East Lynne! Ist es bewohnt?“
„Noch nicht. Ich habe ein wenig Geld hineingesteckt, aber der Aufwand macht sich bezahlt.“
Die Erregung über seine Ankunft hatte sich gelegt, und Isabel sah wieder aus wie sie selbst: blass und traurig. Mr. Carlyle konnte nicht anders als festzustellen, dass sie sich verändert hatte.
„Ich kann nicht damit rechnen, dass ich in Castle Marling so gut aussehe wie in East Lynne“, antwortete sie.
„Ich darf doch davon ausgehen, dass dies für Sie ein glückliches Zuhause ist?“, fragte Mr. Carlyle aus einem Impuls heraus.
Sie sah ihn mit einem Blick an, den er nie vergessen würde; er sprach eindeutig von Verzweiflung. „Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf, „es ist ein schreckliches Zuhause, und ich kann hier nicht bleiben. Ich war die ganze Nacht wach und habe darüber nachgedacht, wohin ich gehen kann, aber ich weiß es nicht; ich habe auf der ganzen weiten Welt keinen Freund.“
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