»Sie?«
»Na sieh mal an, wen wir da haben, Hannibal. Wenn das mal nicht der unfreundliche Kellner aus der Kaschemme ist, in der wir heute mehr schlecht als recht zu Abend gegessen haben.«
Der Hund bellte, sobald der Mann seinen Namen nannte.
Wimmer schüttelte irritiert den Kopf. »Was tun Sie hier?«
Der dicke Mann, von dem der Kellner gehofft hatte, ihn nie wiedersehen zu müssen, kam langsam näher. Er deutete auf den Yorkshire Terrier, der artig im gleichen Tempo neben ihm herlief. »Ich gehe mit meinem Hund spazieren. Oder passt Ihnen das etwa nicht? Dasselbe könnte ich übrigens auch Sie fragen: Was treibt Sie denn zu dieser Stunde in diesen gottverlassenen Park?«
Es widerstrebte Wimmer zwar zutiefst, dem Mann etwas über sich selbst zu offenbaren, dennoch sagte er: »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich gehe fast jeden Tag hier entlang.«
»Was für ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns noch einmal begegnet sind«, sagte der dicke Mann, der weniger als zwei Meter von Wimmer entfernt stehen blieb. Der Hund an seiner Seite hatte zu knurren begonnen. Sein Herrchen sah nach unten. »Ich habe das Gefühl, Hannibal mag Sie nicht besonders.«
Wimmer sah ebenfalls den Hund an und zuckte mit den Schultern. Das beruht auf Gegenseitigkeit , hätte er beinahe gesagt, verkniff es sich jedoch. Als Kellner war es gewohnt, seine Gedanken ständig für sich zu behalten und die Gäste trotz allem höflich und zuvorkommend zu behandeln. Dieses Verhalten hatte er nach all den Jahren verinnerlicht, sodass er sich ebenso verhielt, wenn er freihatte und nicht bediente. »Sieht so aus«, sagte er daher nur.
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie ihm kein Mineralwasser, so wie ich es gewünscht hatte, sondern ordinäres Leitungswasser vorgesetzt haben«, meinte der dicke Mann und sah wieder Wimmer an.
Der Kellner hatte ein ungutes Gefühl. Die Bösartigkeit, die er in Gegenwart dieses Mannes unterschwellig wahrgenommen hatte, kehrte zurück. Am liebsten wäre er einfach weitergegangen, auch wenn er einen Bogen um den Kerl und seinen Hund machen musste, um seinen Weg fortzusetzen. Er hielt es jedoch für notwendig, etwas auf die Anschuldigung des Mannes zu erwidern und sich zu rechtfertigen. »Sie waren nicht bereit, für das Mineralwasser zu bezahlen. Also bekam Ihr Hund auch nur Leitungswasser. Wenn er das nicht mag, kann ich auch nichts dafür.«
»Hast du das gehört, Hannibal?«, fragte der dicke Mann seinen Hund, dessen Knurren daraufhin zu lautem Gebell wurde.
Doch Wimmer hatte keine Angst vor dem Tier. Es war zu klein, um ihm gefährlich zu werden. Wenn es notwendig sein sollte, würde er dem Köter einfach einen Tritt verpassen, der ihn mindesten fünf Meter wegschleuderte. Anschließend würde er die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Bei dem Gewicht, das der dicke Mann auf die Waage brachte, würde er kaum hinterherkommen. Wenn sich der Kerl überhaupt schneller als in Schrittgeschwindigkeit bewegen konnte. »Warum sind Sie eigentlich noch immer hier?«, stellte Wimmer nun die Frage, die ihn beschäftigte, seit er den Kerl erkannt hatte. »Es ist Stunden her, dass Sie die Wirtschaft verlassen haben.«
Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich sagte doch schon, dass ich mit meinem Hund spazieren gehe. Er musste furchtbar dringend und schert sich dabei nicht um die Uhrzeit. Anschließend müssen wir wohl die Zeit vergessen haben, während wir durch diesen schönen und ruhigen Park spaziert sind. Außerdem lieben wir beide die Natur. Sie ist so …« Er verstummte und suchte nach dem richtigen Wort, bevor er den Satz beendete. »… natürlich.«
»Ich muss jetzt weiter«, sagte Wimmer, der den Mann und seinen Hund endlich loswerden wollte. »Ich hatte einen langen Tag und bin müde.«
»Das ist aber jammerschade. Dabei wollte ich mich mit Ihnen noch einmal über den grottenschlechten Service und den miserablen Fraß unterhalten, den Sie mir vorgesetzt haben. Jetzt, wo wir uns rein zufällig noch einmal über den Weg gelaufen sind. Vom erbärmlichen Leitungswasser für meinen kleinen Liebling ganz zu schweigen.«
Erneut schluckte Wimmer die passende Erwiderung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und schwieg.
»Tun Sie sich keinen Zwang an!«, forderte der dicke Mann ihn da auf, als ahnte er, was in dem Kellner vorging. »Sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken. Schließlich sind wir hier in diesem menschenleeren Park nicht mehr Gast und Kellner, sondern nur zwei Männer, die sich zufällig begegnet sind. Außerdem sind wir unter uns. Sie können mir also gern ungeniert die Meinung sagen, wenn Sie wollen.«
Wimmer überlegte. Der Mann hatte recht. Sie waren tatsächlich unter sich und in dieser Situation gleichwertig. Also konnte er mit dem Kerl tun, was er schon bei so manchem Gast gern getan hätte: Ihm ordentlich die Meinung geigen.
»Sie sind widerlich!«, platzte es aus dem Kellner heraus, bevor er überhaupt in der Lage war, über das nachzudenken, was er sagen wollte.
»Hört, hört!«, sagte der dicke Mann daraufhin und lachte gehässig. »Ich bin also widerlich? Was noch? Spucken Sie es schon aus, bevor Sie daran ersticken.«
»Sie haben unrecht.«
»Inwiefern?«
»Das Essen bei uns mag nicht mit dem in einem Sterne-Restaurant vergleichbar sein, aber es ist auf keinen Fall ein, wie nannten Sie es noch mal, miserabler Fraß.« Wimmer spürte, wie er allmählich in Fahrt geriet. Endlich konnte er all das herauslassen, was sich in über fünfunddreißig Berufsjahren in ihm angestaut hatte. »Und was den Service betrifft: Ich möchte mich ungern selbst loben, aber ich habe Sie mit Sicherheit nicht schlecht oder falsch, sondern im Gegenteil absolut korrekt und fehlerlos bedient.«
»Sind Sie fertig?«
»Nein, ich bin noch nicht fertig!«
»Dann fahren Sie endlich fort«, sagte der dicke Mann. »Allmählich werde ich nämlich müde. Außerdem wäre ich gern zu Hause, bevor die Morgendämmerung anbricht.«
»Leute wie Sie«, fuhr Wimmer fort, »haben immer an allem etwas auszusetzen. Sie suchen ständig nach dem Haar in der Suppe. Und wenn Sie keins finden, dann reißen Sie sich eben selbst eins aus und werfen es hinein. Und wissen Sie, warum Sie und Ihresgleichen das tun?«
Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer. Aber da Sie es zu wissen scheinen, klären Sie mich doch bitte auf.«
»Weil Ihr eigenes erbärmliches und inhaltsloses Leben Sie insgeheim ankotzt und Sie es nicht ertragen können, dass andere Menschen glücklich oder zumindest zufrieden mit ihrem Leben sind. Deshalb sind Sie so begierig darauf, anderen das Leben zu vermiesen und zur Hölle zu machen, indem Sie ihre Mitmenschen ständig kritisieren und heruntermachen und nach Dingen suchen, über die Sie sich aufregen können.«
»War’s das jetzt?«
Wimmer nickte. Nach dem Ausbruch fühlte er sich erschöpft. Gleichzeitig war er aber auch erleichtert, dass er endlich hatte aussprechen können, was ihm förmlich auf der Seele gebrannt hatte. Obwohl er bis vor wenigen Augenblicken gar nichts davon geahnt hatte. Erst dieser widerwärtige Mann hatte es zum Vorschein gebracht.
»Das war ja ganz schön starker Tobak«, meinte der andere Mann. »Bist du nicht auch dieser Meinung, Hannibal?«
Als hätte er ihn verstanden und wollte ihm zustimmen, bellte der Hund. Aber vermutlich reagierte er nur jedes Mal automatisch auf die Nennung seines Namens, weil er darauf abgerichtet war.
Dann wandte sich der dicke Mann wieder an Wimmer. »Soll ich Ihnen etwas gestehen?«
Der Kellner sah den anderen Mann argwöhnisch an. Dann nickte er.
»Sie haben vollkommen recht!«
»Was?«
»Natürlich meine ich nicht den Teil, in dem Sie meinten, ich würde ein erbärmliches und inhaltsloses Leben führen, das mich insgeheim ankotzt. Im Gegenteil: Mein Leben ist erfüllt, aufregend und reich an Vergnügen und Abenteuern. Ich liebe es und wünsche mir kein anderes. Aber was den Rest angeht, da haben Sie, verflucht noch eins, einen Volltreffer gelandet.«
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