Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie, wie schon einmal an diesem Abend, das intensive Gefühl, jemand würde sie heimlich beobachten. Sie erschauderte und sah sich suchend um, konnte jedoch niemanden entdecken. Allerdings gab es in ihrem Blickfeld diverse Möglichkeiten, wo sich jemand vollständig vor ihren Blicken verbergen konnte.
Sie schloss daher rasch die Tür und schob für alle Fälle die Sicherheitskette in die Schiene. Dann ging sie, nachdem sie den Schirm an seinen Platz zurückgestellt hatte, mit der Klarsichthülle zwischen den spitzen Fingern in die Küche.
Als Erstes zog sie sich Einweghandschuhe an. Da sie diese stets dann benötigte, wenn sie das Haus oder die Wohnung einer vermissten Person durchsuchte, besaß sie einen Vorrat davon.
Sie holte ein Gemüsemesser aus der Besteckschublade und öffnete damit den Umschlag, sobald sie ihn aus der feuchten Hülle geholt hatte, die sie zum Trocknen auf ein Küchentuch neben der Spüle legte. Als sie einen ersten vorsichtigen Blick in das Kuvert warf, entdeckte sie darin ein einzelnes ungefaltetes DIN-A4-Blatt. Sie nahm das Papier heraus, legte den Umschlag auf den Tisch und sah sich dann an, worum es sich handelte.
Soweit sie sehen konnte, war es ein normales weißes Blatt Druckerpapier. Darauf war das Farbfoto einer Frau abgedruckt, die sich zu einer schwarzen Katze hinunterbeugte, um diese zu streicheln. Das Bild war allem Anschein nach heimlich nach Einbruch der Dunkelheit durch die geschlossene Terrassentür aufgenommen worden, denn die Frau und die Katze befanden sich im hellerleuchteten Wohnzimmer eines Hauses.
Anja musste unwillkürlich daran denken, wie sie vor dem Duschen versucht hatte, Yin zu trösten, als dieser im Wohnzimmer vor der Terrassentür gesessen und missmutig nach draußen in den Regen gestarrt hatte. Deshalb hätte sie die Aufnahme auch leicht für ein Foto von sich und Yin halten können. Allerdings hatte sie sich nicht zu ihm hinuntergebeugt, als sie ihn gestreichelt hatte, sondern war neben ihm in die Hocke gegangen. Und je länger sie das Foto betrachtete, desto mehr Unterschiede zwischen ihr und der abgebildeten Frau einerseits und dem Wohnzimmer auf dem Bild und ihrem eigenen andererseits fand sie.
Allerdings gab es auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Zum einen natürlich die schwarze Katze, die Yin sehr ähnlich sah, auch wenn sie etwas kleiner und zierlicher wirkte. Außerdem hatte die Frau auf dem Foto ebenfalls kurze blonde Haare, auch wenn ihr Haarschnitt ordentlicher wirkte als Anjas stets etwas zerzauste Frisur. Darüber hinaus waren die Haare der anderen Frau leicht gewellt, und ihr Pony war etwas länger.
Dennoch war die oberflächliche Ähnlichkeit der abgebildeten Person und ihres Haustiers zu Anja und Yin unheimlich und ließ sie frösteln. Vor allem, weil diese Ähnlichkeit nach Anjas Meinung nicht zufällig, sondern beabsichtigt zu sein schien.
Spielte etwa irgendjemand da draußen ein abartiges Spielchen mit ihr, indem er ihr dieses Foto geschickt hatte.
Falls ja, dann hatte Anja auch einen konkreten Verdacht, um wen es sich dabei handelte. Und zwar um denselben Mann, der ihren Vater und zahlreiche andere Menschen auf dem Gewissen hatte. Und bei dem es sich, wenn sie nicht komplett auf dem Holzweg war, um ihren Onkel handelte.
Erst als sie sich das Foto so genau angesehen hatte, als wollte sie sich jedes Detail einprägen, widmete sie sich den Dingen, die sich darüber hinaus auf dem Blatt befanden.
Über dem Foto stand in großen schwarzen Druckbuchstaben ein einzelnes Wort:
VERMISST!
Und unter der Aufnahme standen der Name CARINA ARENDT und eine Adresse.
Anja kannte die genannte Straße. Sie traf in weniger als dreihundert Metern Entfernung auf die Straße, in der sie wohnte, und grenzte ebenfalls an den Waldfriedhof. Die auf dem DIN-A4-Blatt abgedruckte Adresse konnte daher höchstens einen Kilometer und damit eine Viertelstunde entfernt sein, wenn man gemütlich zu Fuß ging. Mit dem Auto war man vermutlich sogar in zwei Minuten dort.
Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Allerdings musste sie nicht lange darüber nachdenken. Auf keinen Fall wollte und konnte sie den Inhalt des Umschlags ignorieren. Er war gewiss nicht ohne Grund auf ihre Fußmatte gelegt worden. Und auch die Ähnlichkeit zwischen der Frau auf dem Foto und ihr dürfte alles andere als ein Zufall sein. Außerdem elektrisierte sie das Wort »VERMISST!«, denn immerhin gehörte es zu ihrem Aufgabenbereich als Kriminalbeamtin, vermisste Personen aufzuspüren.
Schon aus diesen Gründen musste sie der Sache auf den Grund gehen. Und da sie nicht wusste, ob es sich nicht doch nur um einen makabren Scherz handelte, würde sie trotz ihres Urlaubs erst einmal höchstpersönlich nach dem Rechten sehen, bevor sie die zuständigen Stellen darüber informierte.
Gerade einmal zwanzig Minuten später stand sie vor dem Haus, dessen Anschrift auf dem Papier stand.
Sobald sie sich spontan dazu entschlossen hatte, hierherzukommen und nachzusehen, hatte sie als Erstes ihre Cousine angerufen, um den Kinobesuch um ein paar Tage zu verschieben. Obwohl es extrem kurzfristig erfolgte, zeigte Tanja dennoch Verständnis. Anja brachte auch keine Ausrede vor, da sie ihre Cousine nicht belügen wollte, sondern legte ihr die wahren Umstände dar und erklärte, warum sie der Sache auf den Grund gehen musste. Tanja kannte ihre Cousine gut genug und wusste daher, dass sie diese nicht davon abbringen konnte, auch wenn es unter Umständen nicht ungefährlich war. Daher bat sie Anja lediglich, auf sich aufzupassen.
Nach dem Telefonat föhnte sich Anja die Haare, auch wenn diese ohnehin fast trocken waren und sich kaum noch in Form bringen ließen. Deshalb waren sie jetzt sogar noch zerzauster als sonst. Aber damit musste sie sich eben abfinden. Anschließend schlüpfte sie in ihre Joggingsachen und zog zum Schutz vor dem Regen, die Kapuze des Pullis über den Kopf. Sie verließ das Haus und rannte los, so als hätte sie vor, noch ein paar spätabendliche Runden zu joggen. Allerdings lief sie nicht wie gewohnt in Richtung Westpark, sondern in die andere Richtung.
Bereits wenige Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.
Obwohl es inzwischen kaum noch regnete, nur vereinzelt fielen ein paar Tropfen, behielt Anja die Kapuze auf dem Kopf. Schließlich wusste sie nicht, was sie hier erwartete. Und falls jemand sie sah, würde die Kapuze es der Person erschweren, sie zu erkennen oder zu identifizieren.
Sie sah sich aufmerksam in alle Richtungen um, doch außer ihr war niemand unterwegs. Wie in der Straße, in der sie wohnte, gab es hier nur auf einer Seite bebaute Grundstücke, davor einen Bürgersteig und einen schmalen Grünstreifen, auf dem dünne Bäume und Laternenmasten standen. Mehrere Autos parkten auf dieser Seite am Straßenrand. Sowohl die Straße als auch der Bürgersteig waren menschenleer. Auf der anderen Seite der Straße befanden sich zugewachsene Schienen, die nicht mehr genutzt wurden. Dahinter kamen zunächst ein Grünstreifen, dann ein Fußweg mit Sitzbänken und schließlich ein Holzlattenzaun, hinter dem der Friedhof lag.
Anja fröstelte unwillkürlich, als sie an ihr Erlebnis mit dem Apokalypse-Killer auf dem nächtlichen Waldfriedhof dachte. Rasch verdrängte sie die Erinnerungen, die wie Gewitterwolken in ihrem Bewusstsein heraufgezogen waren, und konzentrierte sich wieder vollständig auf das Hier und Jetzt. Sie lauschte auf verdächtige Geräusche, konnte jedoch außer dem stetigen Tröpfeln von den Bäumen und dem Säuseln des leichten Windes nichts hören, das sie beunruhigte. Außerdem hatte sie auch nicht wieder das Gefühl, als ob jemand sie heimlich beobachten würde.
Sie beschloss, nicht darauf zu warten, bis sich das änderte und jemand kam, sondern endlich zu handeln. Deshalb öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentürchen, das ein leises Quietschen hören ließ, und betrat das Grundstück. Dabei verhielt sie sich völlig natürlich und ungezwungen, als gäbe es trotz der fortgeschrittenen Stunde einen triftigen Grund für ihr Hiersein. Denn falls jemand zufällig aus einem Fenster der Nachbarhäuser sah, wollte sie aufgrund ihrer dunklen Kleidung keinen falschen Eindruck erwecken und nicht für einen Einbrecher gehalten werden. Als sie nur noch wenige Meter von der Haustür entfernt war, ging eine Lampe über der Tür an. In ihrem hellen Schein konnte Anja mühelos den Namen auf dem metallenen Türschild neben der Klingel lesen: C. Arendt.
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