1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Allerdings wollte sie hinterher auch nicht wie eine Idiotin dastehen, wenn es für all das hier eine harmlose Erklärung gab. Denn natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass die Bewohnerin das Haus verlassen und einfach nur vergessen hatte, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten und die Terrassentür zu verschließen. Vielleicht nahm sie auch gerade ein Bad und hatte deshalb nicht an die Tür kommen können. Oder sie schlief tief und fest, sodass sie nichts gehört hatte.
Deshalb widerstrebte es Anja, die Sache an die große Glocke zu hängen. Vielleicht war das alles letzten Endes doch nur ein makabrer Scherz. Aus diesem Grund wollte sie zunächst selbst nach dem Rechten sehen. Sollte sich ihre düstere Vorahnung erfüllen und es sich hier tatsächlich um einen Vermisstenfall oder unter Umständen sogar um einen Mordfall handeln, konnte sie die Kollegen immer noch informieren. Und falls sie bei der Durchsuchung des Hauses auf die Leiche der Bewohnerin stieß, war sie schließlich nicht gezwungen, sich ihr mehr als unbedingt notwendig zu nähern.
Außerdem, das spürte Anja in diesem Moment deutlich, musste sie das Haus unbedingt betreten, egal, ob sich darin eine Leiche befand oder nicht. Und es war letzten Endes auch gleichgültig, ob jemand ein perfides Spielchen mit ihr trieb, indem er sie mithilfe der Nachricht vor ihrer Tür manipuliert und hierhergelockt hatte, oder die Sache nur ein makabrer Scherz war. Sie musste sich selbst davon überzeugen und mit eigenen Augen sehen, was hier vor sich ging. Schließlich war der Umschlag, der sie hierher geführt hatte, vor ihrer Haustür abgelegt worden. Außerdem gab es unzweifelhaft Gemeinsamkeiten zwischen ihr und der Frau auf dem Foto, und das konnte kein bloßer Zufall sein. Schon aus diesem Grund nahm sie die Sache persönlich. Im Übrigen war sie es der Bewohnerin des Hauses schuldig, dass sie der Geschichte auf den Grund ging und selbst nach dem Rechten sah.
Anja wurde noch immer von widerstreitenden Gefühlen erfüllt. Dabei beschlich sie vor allem die Angst, bei der Durchsuchung des Hauses über die Leiche der Bewohnerin zu stolpern. Allerdings hatte sie nicht vor, sich vor dieser Angst beherrschen zu lassen, sondern würde sich ihr stellen.
Nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte und rasch zu einer Entscheidung gelangt war, atmete Anja tief durch.
Wenn sie wissen wollte, was hinter der mysteriösen Nachricht steckte, die sie erhalten hatte, und warum das Haus scheinbar verlassen war, obwohl Licht brannte – und das wollte sie unbedingt! –, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als das Haus zu betreten.
Anja griff erneut in die Tasche ihres Kapuzenpullis und holte zwei Überschuhe aus Polypropylen heraus, die sie nacheinander über ihre Schuhe streifte. Ihr Eindringen in das scheinbar verlassene Haus war bereits grenzwertig, da wollte sie nicht auch noch die Arbeit der Kriminaltechnik sabotieren, falls an diesem Ort eine Straftat begangen worden war.
Sie schob die Terrassentür weit genug auf, sodass sie bequem durch die Öffnung schlüpfen konnte, und betrat dann das stille Haus.
Schon von draußen hatte sie kleine Pfützen schmutzigen Wassers auf dem Parkettboden entdeckt, die in einer direkten Linie von der Terrassentür zur Zimmertür führten. Scheinbar hatte vor ihr jemand anderes, vermutlich während des Regens, mit nassen Schuhen und feuchter Kleidung, von der das Regenwasser tropfte, das Haus durch die Terrassentür betreten und dabei diese Spuren hinterlassen. Sie bemühte sich, nicht hineinzutreten, und hielt sich links davon. Als sie die Terrassentür schließen wollte, stellte sie fest, dass das nicht möglich war. Sie warf daraufhin einen genaueren Blick auf den Schließmechanismus und sah, dass die Tür aufgehebelt und die Verriegelung zerstört worden waren.
Allmählich verdichteten sich die Hinweise, dass an diesem Ort etwas nicht in Ordnung war. Doch da Anja jetzt im Haus war, wollte sie sich wenigstens kurz umsehen, bevor sie die zuständigen Kollegen informierte.
Sie ging neben den nassen Fußspuren in die Hocke und nahm sie genauer in Augenschein. In der Nähe der Tür waren die Wasserpfützen noch am größten und deutlichsten, wurden dann aber stetig kleiner, je weiter sie sich davon entfernten. Teilweise waren sie auch bereits getrocknet und hatten nur eine braune Schmutzschicht auf dem Parkett hinterlassen. Hier und da war sogar das Profil eines Stiefels erkennbar. Wer immer vor ihr auf diesem Weg ins Haus gekommen war, hatte sich nicht die geringste Mühe gemacht, die Spuren seines Eindringens zu verwischen. Zum Vergleich stellte Anja ihren rechten Fuß direkt neben einen besonders deutlich erkennbaren Abdruck und stellte fest, dass der Stiefel, der diese Spur hinterlassen hatte, ein paar Nummern größer als ihr Turnschuh gewesen sein musste.
Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah sich im Wohnzimmer um, das mit hochwertigem Mobiliar geschmackvoll eingerichtet war. Es war sauber und aufgeräumt. Nirgends herrschte die geringste Unordnung, und alles war scheinbar an seinem Platz.
Es gehörte zu Anjas täglicher Routine, die Wohnungen und Häuser vermisster Personen zu durchsuchen. Deshalb hatte sie im Laufe der Zeit auch ein Gespür dafür entwickelt. Hier deutete ihrer Meinung nach nichts darauf hin, dass die Bewohnerin vorhatte, für längere Zeit wegzugehen. Wenn, dann hatte sie das Haus nur für kurze Zeit verlassen und vorgehabt, bald wieder zurückzukommen.
Falls sie das Haus überhaupt verlassen hat!
Anja rief sich in Erinnerung, dass dies hier – noch? – kein Vermisstenfall war. Aus diesem Grund war sie auch nicht als Ermittlerin der Vermisstenstelle in offiziellem Auftrag hier. Sie war nur hier, um sich einen raschen Überblick über die Situation zu verschaffen und dann die zuständigen Stellen einzuschalten, sollte das notwendig sein. Daher konnte sie sich auch nicht so viel Zeit lassen wie gewöhnlich, wenn sie die Wohnungen vermisster Personen durchsuchte, sondern wollte endlich einen Zahn zulegen.
Als sie das Wohnzimmer durchquerte und sich dabei weiterhin neben den nassen Fußspuren hielt, entdeckte sie an der Wand mehrere gerahmte Fotografien. Interessiert ging sie hin und sah sich die Aufnahmen aus der Nähe an. Auf fast allen war die Frau zu sehen, die sich auch auf dem ausgedruckten Foto befand, das Anja bekommen hatte.
Carina Arendt , rief sie sich den Namen in Erinnerung.
Diese letzte Bestätigung hätte sie nicht mehr gebraucht. Dennoch hatte Anja damit einen weiteren Beweis, dass die Frau aus der geheimnisvollen Vermisstenmeldung , die sie auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, tatsächlich die Bewohnerin dieses scheinbar verlassenen Hauses war.
Auf den Fotografien an der Wand war die Frau teilweise deutlich jünger als auf dem, das Anja zugespielt worden war. Teilweise hatte sie darauf auch längere Haare oder eine andere Frisur. Auf mehreren Aufnahmen war auch ein dunkelhaariger Mann zu sehen, zu dem die Frau eine innige Beziehung zu haben schien, denn sie hielten sich im Arm oder schmiegten sich aneinander. Entweder handelte es sich um den Ehemann, den Lebenspartner oder einen Bruder der Frau. Auch die schwarze Katze war auf zwei Fotos verewigt worden.
Neben den Fotografien hingen zwei gerahmte Urkunden. Bei einer handelte es sich um eine Diplomurkunde der Fachhochschule München, in der Frau Carina Arendt aufgrund der im Studiengang Architektur erfolgreich abgelegten Abschlussprüfung der akademische Grad »Diplom-Ingenieur (FH)« verliehen wurde. Laut der anderen Urkunde war Frau Dipl.-Ing. (FH) Carina Arendt als ordentliches Mitglied in den Verband deutscher Architekten (VDA) aufgenommen worden. Als sich Anja die Geburtsdaten auf den beiden Dokumenten ansah, wurde ihr klar, dass sich die Ähnlichkeit zwischen ihr selbst und Carina Arendt nicht auf das Geburtsdatum erstreckte, denn die andere Frau war mehr als zehn Jahre älter als sie.
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