Doch dort war niemand. Und auch sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen. Obwohl es längst nicht mehr so heftig regnete, lag die Straße, auf deren anderer Seite sich der Waldfriedhof befand, einsam und verlassen vor ihr.
Hatte sie sich etwa getäuscht und das Klopfen nur eingebildet?
Ausgeschlossen!
Sie schüttelte entschieden den Kopf, denn sie war sich hundertprozentig sicher, dass es dreimal laut und deutlich geklopft hatte.
Anja trat vom Fenster zurück und überlegte. Wer immer gegen die Tür gehämmert hatte, hatte nicht gewartet, bis sie zur Tür gekommen war, sondern war schon wieder verschwunden. Und da augenscheinlich niemand draußen stand, gab es auch keine Veranlassung mehr, diese zu öffnen.
Trotzdem …
Anja wollte zumindest kurz nachsehen. Vielleicht war es doch Tanja gewesen. Und unter Umständen hatte sie nicht länger warten können und stattdessen eine Nachricht hinterlassen.
Aber warum hatte sie dann nicht einfach angerufen, wenn ihr etwas dazwischengekommen war? Da Anja Urlaub hatte, hätten sie den Termin ohne Probleme auf einen der nächsten Tage verschieben können.
Die Sache war ihr ein Rätsel. Und wenn Anja etwas nicht leiden konnte, dann waren es ungelöste Rätsel. Zumindest solange sie nicht in einer Zeitschrift abgedruckt waren und mit einem Kugelschreiber und etwas Nachdenken gelöst werden konnten. Bei allen anderen Mysterien, die ihr in ihrem Job oder im täglichen Leben begegneten, verspürte Anja sofort den unwiderstehlichen Drang, ihnen auf den Grund zu gehen und sie aufzuklären. Vielleicht war sie auch deshalb Polizistin geworden und in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Oder aber sie musste sämtliche Geheimnisse ergründen, auf die sie stieß, gerade weil sie Polizistin war. Anja wusste nicht, welche dieser beiden Möglichkeiten am ehesten zutraf. Es war beinahe wie die berühmte Frage, was zuerst da gewesen war. Die Henne oder das Ei? Doch letztendlich war es ihr auch egal. Sie schritt entschlossen zur Tat, bevor sie noch lange darüber nachgrübeln konnte.
Yin, der ihr gefolgt war, saß auf dem Läufer im Flur und beobachtete sie mit unergründlicher Katzenmiene.
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Anja zu ihm, als sie einen Stockschirm mit metallener Spitze aus dem Ständer neben der Garderobe nahm und zum Zustoßen bereit vor sich hielt, während sie zur Tür trat.
Inzwischen ergänzte sie ihre täglichen einseitigen Konversationen mit der Katze in Gedanken manchmal mit möglichen Antworten des Tiers. Das tat sie auch jetzt. Und so hätte Yin, wäre er wie in einem Märchen der menschlichen Sprache mächtig, ihrer Meinung nach Folgendes als passende Antwort darauf erwidern können:
»Und Neugier ist der Katze Tod!«
Anja warf Yin über die Schulter einen irritierten Blick zu, so als hätte er tatsächlich zu ihr gesprochen.
»Ich pass schon auf«, sagte sie, legte mit einer Entschlossenheit, die demonstrativer wirkte, als sie war, ihre Hand auf die Klinke der Haustür und zog sie dann ebenso ruckartig auf, wie sie es vor wenigen Minuten mit der Tür des Badezimmers getan hatte.
Obwohl sie sich innerlich darauf eingestellt hatte und vor Anspannung die Luft anhielt, sprang dieses Mal nichts auf sie zu, um ihr einen Schrecken einzujagen.
Vor der Tür und innerhalb ihres gesamten Blickfeldes, das von den Türpfosten rechts und links begrenzt wurde, war noch immer niemand zu sehen. Und außen an der Tür hing auch keine Nachricht ihrer Cousine, worauf sie insgeheim gehofft hatte.
Anja stieß die angehaltene Luft aus, blieb aber weiterhin wachsam. Sie war noch immer bereit, den Regenschirm jederzeit wie einen Stockdegen zu benutzen und zuzustoßen, sollte es erforderlich sein, während sie sich nach vorn beugte und zunächst einen raschen Blick nach rechts und dann einen Blick nach links warf.
Niemand da!
Das Rätsel, wer aus welchem Grund an ihre Tür geklopft hatte, blieb weiterhin ein Geheimnis.
Anja suchte dennoch nach logischen Erklärungsmöglichkeiten.
Kinder, die sich einen Scherz erlaubt haben und dann sofort weggerannt sind?
So etwas war schon mehrere Male vorgekommen. Aber nie so spät am Abend und schon gar nicht bei so einem Sauwetter. Um diese Uhrzeit und bei Regen waren keine Kinder mehr unterwegs, die nervige, aber letztendlich harmlose Streiche spielten. Außerdem klopften sie nicht an die Tür, sondern klingelten in der Regel vorn am Gartentürchen.
Was dann?
Halbwüchsige, denen es zu langweilig war und die zu übermütig waren? Vielleicht. Ausgelassene Betrunkene auf dem Weg von einer Kneipe zur nächsten? Ihrer Meinung nach vermutlich die einzigen Erwachsenen, die aufgrund ihres Zustands derartig infantile Streiche halbwegs lustig fanden.
Anja schüttelte den Kopf. Vermutlich würde sie nie erfahren, wer vor wenigen Minuten an ihre Tür geklopft hatte und aus welchem Grund die Person es getan hatte. Aber höchstwahrscheinlich war es nur ein harmloser Streich oder ein Versehen gewesen und damit das Tamtam nicht wert, das sie darum veranstaltete.
Sie zog sich wieder ins Haus zurück, um sich abzuwenden und die Tür zu schließen. Doch da fiel ihr zum ersten Mal der großformatige braune Umschlag auf, den jemand zum Schutz vor dem Regen in eine Klarsichthülle gesteckt und auf die Fußmatte gelegt hatte.
Anja erstarrte mitten in der Bewegung, während in ihrem Inneren plötzlich Chaos ausbrach und ihre Gedanken rasten.
Natürlich musste sie sofort an die Nachrichten denken, die ihr im Fall des Apokalypse-Killers von dessen Hintermann oder Komplizen geschickt worden waren. Auch nach dem Tod des Serienmörders hatte sie noch einen derartigen Umschlag am Grab ihres Vaters gefunden. Darin hatte sich ein Foto befunden, das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte und das nur der Mörder aufgenommen haben konnte. Erst durch dieses Foto war ihr bewusst geworden, dass ihr Vater keinen Selbstmord begangen hatte, wie jeder jahrzehntelang geglaubt hatte, sondern ermordet worden war.
Anja starrte noch immer auf den Umschlag zu ihren Füßen, der exakt so aussah wie die Kuverts, die sie regelmäßig nach den Morden des Apokalypse-Killers erhalten hatte. Allerdings hatte das natürlich nicht zwangsläufig zu bedeuten, dass sie vom selben Absender stammten, denn solche Umschläge waren weit verbreitet und es gab sie wie Sand am Meer. Außerdem stand im Gegensatz zu damals diesmal nicht ihr Name darauf. Allerdings gab es auch so keinen Zweifel, für wen der Umschlag bestimmt war, schließlich lag er vor ihrer Tür auf der Fußmatte. Außerdem hatte die Person, die ihn hier abgelegt hatte, an ihre Haustür geklopft, bevor sie wieder spurlos verschwunden war, um Anja dazu zu bringen, die Tür zu öffnen und nachzusehen.
Während sie über all das nachdachte, war sie blind und taub für ihre Umwelt. Jeder, der ihr etwas hätte antun wollen, hätte diesen Moment ausnutzen können, um sich ihr unbemerkt zu nähern.
Doch erst als sie die Berührung spürte, wurde sich Anja dieser Gefahr jäh bewusst. Sie sog die Luft ein und zuckte erschrocken zusammen. Doch da war es bereits zu spät, um zu reagieren und sich zu verteidigen.
Zum Glück war das aber auch gar nicht notwendig, denn es war wieder nur Yin, der ihr linkes Bein streifte, als er an ihr vorbeiging. Er schnüffelte an der Klarsichthülle mit dem Umschlag, verlor aber sofort wieder das Interesse, und sah nach draußen. Es nieselte zwar mittlerweile nur noch, doch der Kater machte dennoch keine Anstalten, das Haus zu verlassen. Vermutlich war es ihm immer noch zu nass. Er maunzte verärgert, drehte sich um und stolzierte davon, wobei er sich im Vorbeigehen erneut kurz an Anjas Bein rieb, bevor er schließlich im Wohnzimmer verschwand.
Anja, die ihm schweigend hinterhergeschaut hatte, richtete ihren Blick wieder auf den Umschlag. Allmählich spürte sie die Kühle der Nacht auf der bloßen Haut ihrer Beine und fröstelte. Außerdem wurde sie sich darüber bewusst, dass sie im Bademantel, barfuß und mit feuchten Haaren in der offenen Haustür stand. Sie bückte sich daher rasch und ergriff die Klarsichthülle mit den Spitzen ihrer Finger vorsichtig an einer Ecke. Für den Fall, dass Hülle und Umschlag Bestandteile einer offiziellen Ermittlung werden sollten, wollte sie keine Spuren verwischen und so wenige eigene Fingerabdrücke darauf hinterlassen wie möglich.
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