Denn er hatte sie angerufen. Exakt dreimal hatte er das getan. Und jedes Mal hatte er ihr die abgewandelte Zeile seines Lieblingsliedes vorgesungen.
Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …
Mehr hatte er gar nicht getan. Und anschließend hatte er sofort wieder aufgelegt.
Wahrscheinlich hatte sie gedacht, er wäre nur irgendein Perverser, der sich daran aufgeilte, willkürlich Frauen anzurufen und in Unruhe zu versetzen. Der sich dann aber doch nicht traute, ihnen persönlich gegenüberzutreten. Aber da hatte sie sich getäuscht.
Ein tödlicher Irrtum!
Und in diesem für sie furchtbaren, für ihn hingegen wunderbaren Moment wurde ihr dieser Irrtum in aller Endgültigkeit bewusst. Und als sie nun erkannte, dass der Regenmann gekommen war, so wie er es dreimal angekündigt hatte, vergoss sie bittere Tränen.
Der Regenmann kostete diesen allzu kurzen magischen Moment aus, solange er währte. Er saugte sämtliche Sinneseindrücke wie ein trockener Schwamm in sich auf und speicherte sie, um sie später immer wieder abrufen und sich daran erfreuen zu können.
Dann trübte sich der Blick der Frau, und sie erschlaffte in seinem Griff.
Enttäuscht schüttelte der Regenmann den Kopf.
Der magische Augenblick, auf den es ihm angekommen war, war vorüber, und seine Erregung verflog rasch wieder. Von jetzt an war die Frau nicht nur uninteressant für ihn, sie widerte ihn geradezu an. Es war daher an der Zeit, dem allen ein rasches Ende zu bereiten.
In einer fließenden Bewegung zog er ihr das Messer aus der Brustwunde.
Die Frau erzitterte daraufhin am ganzen Körper, als hätte man ihr einen Stromstoß versetzt.
Der Regenmann wollte nicht mehr sehen, was im Augenblick ihres Todes in ihrem Gesicht und in ihren Augen vor sich ging. Es war ohne Belang für ihn. Er hatte bekommen, was er wollte. Er würde die Erinnerung daran bewahren und immer wieder davon zehren. Aber was er jetzt tun musste, war nur eine lästige Pflicht, die dazugehörte, die er aber nur äußerst ungern erledigte. Trotzdem musste es getan werden.
Aus diesem Grund schnitt er ihr knapp oberhalb seiner Hand die Kehle durch und warf sie gleichzeitig rasch von sich, sodass sie in die offene Duschkabine flog. Ihr Kopf schlug gegen die Kachelwand und hinterließ einen blutigen Abdruck. Der Regenmann bezweifelte allerdings, dass sie es noch spürte, denn sie war kaum noch am Leben. Der Gürtel des Bademantels war aufgegangen. Der Mantel hatte sich geöffnet und den Blick auf ihren nackten Körper und die heftig blutenden Wunden freigegeben. Vor allem aus dem klaffenden Schnitt in ihrem Hals und der Brustwunde spritzte das Blut, während ihr Herz seine letzten verzweifelten Schläge tat. Der Stoff des Bademantels saugte einen Großteil des vielen Blutes auf und verfärbte sich rot. Der Rest lief zum Abfluss der Dusche und versickerte dort.
Schließlich zuckte der Körper der Frau ein letztes Mal, dann lag er vollkommen still, weil jegliches Leben daraus entflohen war.
Der Regenmann wandte seufzend den Blick ab. Nachdem er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass die Frau tot war, konnte er das blutige Ergebnis seiner Tat nicht länger ansehen. Er ging zum Waschbecken und ließ Wasser über die Messerklinge und seine Handschuhe laufen, um das Blut abzuwaschen. Dann trocknete er die Klinge sorgfältig ab, bevor er fluchtartig das Badezimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.
Im Flur blieb er stehen. Er drehte den Kopf in alle Richtungen, sah sich aufmerksam um und lauschte.
Wo hat sich bloß diese verdammte Katze verkrochen?
Nun, er würde es schon herausfinden. Schließlich war das Haus nicht besonders groß. Wenn er methodisch vorging, Zimmer für Zimmer gründlich durchsuchte und anschließend die Türen schloss, musste er früher oder später zwangsläufig auf die Katze stoßen. Schließlich sorgte der Regen, der immer noch heftig vom Himmel fiel, dafür, dass sie nicht nach draußen flüchten würde.
Fang endlich an zu suchen! , befahl die Regentropfenstimme.
Der Regenmann nickte gehorsam und setzte sich augenblicklich in Bewegung.
ERSTER TEIL
Anja zuckte vor Schreck zusammen. Sie stieß einen kurzen Aufschrei aus, als Yin durch die offene Badezimmertür auf sie zusprang und sich mit aufgestelltem Schwanz augenblicklich an ihren nackten Beinen rieb.
»Puh!«, sagte sie, atmete erleichtert aus und legte die rechte Hand auf ihr Herz, das heftig und rasch schlug. »Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt. Mach das bloß nie wieder!«
Der Kater sah mit einer Miene zu ihr hoch, als wäre er sich keiner Schuld bewusst, und miaute laut und langanhaltend.
Anja seufzte. »Was ist los? Nachdem du mich vorhin noch ignoriert hast, kommst du plötzlich wieder an und willst was von mir. Und dabei erschreckst du mich auch noch fast zu Tode.« Anja bemühte sich zwar um einen strengen Tonfall, sie konnte der Katze aber nicht böse sein. Und das wusste dieser kleine schwarze Teufel vermutlich auch haargenau.
Yin rieb seinen geschmeidigen Körper an ihrem Schienbein. Er ließ erneut ein langes und herzzerreißendes Miauen hören.
»Tut mir leid, dass es regnet und du nicht raus kannst, Kumpel«, sagte sie, während sie sich bückte und ihn am Kopf und am Hals kraulte, worauf der Kater sich hinsetzte und wohlig zu schnurren anfing. »Aber es hört sich für mich ganz danach an, als wäre der Regen nicht mehr so heftig wie zuvor. Wahrscheinlich hört es in zwanzig Minuten oder spätestens einer halben Stunde ohnehin zu regnen auf. Und dann kannst du immer noch nach draußen und dein Revier gegen deine Rivalen verteidigen, oder was auch immer du nachts treibst.«
Entschlossen, sich von der Katze nicht länger aufhalten zu lassen, richtete sie sich wieder auf und wandte sich um.
»Leider hab ich jetzt keine Zeit mehr, mich um dich zu kümmern, Yin. Ich muss zusehen, dass ich fertig werde, bevor Tanja vor der Tür steht.«
Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Katze sich hingebungsvoll putzte. Sie glaubte zwar nicht, dass ihre Worte dazu beitragen hatten, allenfalls ihr sanfter Tonfall, doch der Kater schien sich wieder etwas beruhigt zu haben.
Froh, dass sie jetzt eine Sorge weniger hatte, wandte sie sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Doch im selben Augenblick hörte sie, dass unten dreimal kräftig gegen die Haustür gehämmert wurde.
»O nein!«, entfuhr es ihr. Obwohl ihre innere Uhr etwas anderes sagte, befürchtete sie, zu viel Zeit unter der Dusche vertrödelt zu haben. Sie nahm ihre Armbanduhr, die sie auf die Ablage unter dem Badezimmerspiegel gelegt hatte, und las die Uhrzeit ab. Doch ihr Zeitgefühl trog sie nicht. Sie hatte noch mehr als ausreichend Zeit, um sich fertigzumachen, bevor sie mit ihrer Cousine verabredet war.
Wenn das Tanja ist, dann ist sie viel zu früh dran. Aber wieso kommt sie schon jetzt? Und warum klingelt sie nicht?
Augenblicklich machte sie sich Sorgen um ihre Cousine. Da sie beide keine echten Geschwister hatten – Anja hatte nur einen Stiefbruder, den sie nicht leiden konnte –, standen sie sich so nahe wie Schwestern. Ihr Verhältnis hatte sich sogar noch vertieft, nachdem Tanja wegen ihrer Krebserkrankung in die Gewalt des Apokalypse-Killers geraten war und Anja sie gerettet hatte. Den Krebs hatte Tanja mittlerweile besiegt, dennoch machten sich alle Sorgen, er könnte zurückkehren.
Ob etwas passiert ist?
Die Ungewissheit vergrößerte Anjas innere Unruhe. Sie nahm sich daher gar nicht erst die Zeit, sich etwas anderes anzuziehen, sondern lief im Bademantel und barfuß die Treppe nach unten und zur Haustür. Allerdings warf sie trotz ihrer Sorge gleichwohl nicht sämtliche Vorsichtsmaßnahmen über Bord, sondern zunächst einen Blick durch das winzige Fenster neben der Tür, um nachzusehen, wer draußen stand und Einlass begehrte.
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