Dragon war bereits hier, als das Mädchen verkauft werden sollte. Runas rechte Hand wandert unbewusst zu ihrem linken Unterarm. Sie spürt dort ein Gefühl der Wärme und ein feines Kribbeln, sobald der Junge sie mit seinen hellbraunen Augen fixiert. Deshalb umfasst sie jetzt den Arm mit ihrer anderen Hand.
Runa besitzt dort eine Art Brandmal, das unter dem Ärmel verborgen ist. Es ähnelt einem großen S, könnte aber auch eine Schlange sein. Sie überlegt, seit wann sie sich an das Mal erinnert. Wie konnte es dorthin gelangt sein? Sollte sie sich an einer Pfanne oder einem Topfrand verbrannt haben? Doch dann wäre sicher kein »S« das Ergebnis gewesen. Ein Halbmond oder ein gerader Strich sind eher zu erwarten, aber ein derart zweifach gebogenes Mal?
In einem Alter von zehn Jahren beginnt für die Kinder in Merion die Zeit der Ausbildung. Je nachdem, welchen Beruf sie lernen, haben sie unterschiedlich schwere Zeiträume vor sich. Runa befindet sich im dritten Lehrjahr zur Hilfsköchin. Sie hat sich soeben noch erinnert, wie sie in das Gasthaus »Fuchs und Gans« gekommen war, bis sie aus ihren Erinnerungen gerissen wurde. Warum diese Szenen heute in ihr Bewusstsein drängen, versteht sie nicht. Sie hat seit ihrer Ankunft in dem Gasthaus nur wenig an ihr voriges Leben und die Amme gedacht.
Seitdem sind mittlerweile sieben Jahre vergangen. Weshalb hat sie damals die Suche nach Paia aufgegeben? Dass das der verkürzte Name ihrer Amme gewesen ist, ist ihr inzwischen klar. Manchmal grübelt sie darüber, warum Atropaia sie hin und wieder Runa S genannt hat. In diesem Land haben die Kinder nur einen Vornamen. Lediglich diejenigen von höher gestellten Familien tragen zusätzlich einen Familiennamen. Doch »S« kann kaum eine Bezeichnung …
»RUNA!« Die Stimme von Pulmoria ruft sie zur Ordnung. »Die Kartoffeln schälen sich nicht von allein.« Mehr braucht die dicke Köchin nicht zu sagen. Das Mädchen schimpft gedanklich mit sich selbst.
»Du dumme Göre! Der Korb ist noch voll und die ersten Gäste werden bald nach dem weithin gepriesenen, guten Essen verlangen.«
Das Wirtshaus »Fuchs und Gans« wird von vielen Landarbeitern besucht. Jedenfalls von denen, die sicherstellen wollen, etwas Genießbares zwischen die Zähne zu bekommen. Es ist nicht so, dass deren Frauen nicht mit den Kochkünsten Pulmorias mithalten könnten, sie sind einfach noch nicht verheiratet.
Runa hat in den vergangenen zwei Lehrjahren vieles bei der Köchin abgeschaut, trotzdem glaubt sie nicht, jemals derart gut schmeckende Speisen zubereiten zu können. Kartoffelschälen, Gemüse putzen und andere vorbereitende Arbeiten gelingen ihr inzwischen recht ordentlich und schnell, wenn sie nicht träumt. Zu den Aufgaben einer Hilfsköchin gehört es auch, die benötigten Zutaten aus der Vorratskammer oder dem Keller zu holen. Das ist eine Tätigkeit, vor der sie stets zurückscheut. Das in dem dumpfen Gewölbe herumkrabbelnde Getier ruft heftigen Ekel in ihr hervor. Aber nicht nur diese Tiere, ob mit Fell und langem Schwanz, oder achtbeinig mit traubenförmigen Augen, leben dort. Manches Mal meint sie ein lautes Fauchen zu hören und gleich darauf schlägt ihr warme Luft entgegen. Sollte im Keller ein Drache auf sie warten? Gesehen hat sie ihn noch nie, aber was besagt das schon?
Runa hat von Pulmoria den Auftrag bekommen, auf dem Markt frisches Gemüse und möglichst ein oder zwei Bund rote Zwiebeln zu kaufen. Die Köchin will für das Mittagessen ein bei den Gästen des Wirtshauses beliebtes Gericht bereiten. Was es ist, hat sie dem Mädchen nicht verraten, obwohl dieses etwas ahnt. Mit dem großen Korb am Arm läuft es Richtung Zentrum des Örtchens. Es beeilt sich, weil die Luft noch kühl und die Sonne soeben erst aufgegangen ist. Runa weiß aus Erfahrung, mit Bewegung wird ihr schnell warm werden. Die Straße führt nicht besonders steil den Hügel hinab, trotzdem wird sie den Weg zum Markt leichter hinter sich bringen. Auf dem Rückweg wird sie dagegen nicht mehr hüpfend unterwegs sein, was nicht nur an dem dann gefüllten Korb liegen wird.
Runa erinnert sich plötzlich an den Morgen, an dem sie vor sieben Jahren kaum in der Lage war, dem Straßenverlauf nach Homarket zu folgen, obwohl die größte Strecke hangabwärts verlief. Lediglich das letzte Stück führte wieder aufwärts. Heute wird sie sich nicht so quälen müssen. Sie wischt die Erinnerung fort und wirft einen Blick in die Runde. Runa findet diese Region mit der hügeligen Landschaft heimelig. Sie wirkt ganz anders als das Waldgebiet, in dem Paias Häuschen steht. Dort ist für die ersten Jahre ihre Heimat gewesen. Das Haus steht auf einer großen Lichtung, doch der umliegende Wald erschien ihr seltsam bedrohlich. Das lag nicht an den Bäumen an sich, sondern mehr an den unbekannten Geräuschen, die daraus zu ihr herüberklangen. Dass der dichte Forst einen nicht zu verachtenden Schutz für sie und ihre Amme bot, wird sie noch verstehen lernen. Im Nachhinein wundert sie sich, dort nie ungezwungen mit fremden Kindern in Kontakt gekommen zu sein.
Es ist nicht so, dass sie in Homarket viel Zeit ohne Arbeit verbringen konnte. Bevor sie ihre Ausbildung zur Hilfsköchin begann, musste sie von morgens bis abends Tätigkeiten im Haus verrichten. Sollte sie damit fertig gewesen sein, und draußen herrschte noch einigermaßen helles Licht, durfte sie mit anderen Kindern spielen. Doch das war eher selten der Fall. Außerdem rümpften die Mädchen der Nachbarschaft gerne ihre Nasen, sobald Runa in ihre Nähe kam. Es lag keinesfalls daran, dass sie sich nicht wusch oder schmutzige Kleidung trug, sie war sauberer als die meisten von ihnen. Nein, der Grund war einfach, dass sie arbeiten musste, um im Wirtshaus geduldet zu werden. Die Nachbarkinder konnten dagegen von früh bis spät spielen. Ihr Arbeitsleben begann erst, als sie das zehnte Lebensjahr vollendet hatten.
Da Runa sozusagen nichts anderes kennengelernt hatte, war sie über die wenigen arbeitsfreien Momente froh. Dazu zählte sie auch die Aufgabe, Besorgungen auf dem Markt zu erledigen. Genaugenommen hatte sie dabei nicht frei, doch ihre für den Einkauf benötigte Zeit ließ sich nur grob kontrollieren. Deshalb rannte sie meistens auf dem Weg den Hügel hinab, obwohl sie damit Gefahr lief, zu stolpern. Mit zwölf Jahren geschah das zwar nicht so schnell wie mit fünf, aber es ist nicht unmöglich. Und genau das passiert jetzt.
Runas Kopf fährt nach links, als aus einer Seitenstraße lautes Kreischen zu ihr herüberschallt. Sie wendet ihren Blick dorthin. Befindet sich ein Mädchen in Gefahr? So hört es sich jedenfalls an. Ihre suchenden Augen entdecken ein kleineres Kind, das mit von sich gestreckter Hand auf etwas deutet. Das ist der Augenblick, in dem Runa völlig unerwartet ins Straucheln gerät. Hätte sie nach vorn geschaut, wären ihr die ausgestreckten Beine eines Bettlers aufgefallen, der in zerlumpter Kleidung am Straßenrand sitzt. Dessen erboster Ausruf mischt sich mit ihrem kurzen Wehklagen, denn sie ist mit den Knien aufgeschlagen.
»Kannst du nicht aufpassen, wohin du trittst? Dummes Balg!«
Runa reibt sich die Knie. Es sieht nicht so aus, dass sie sich etwas gebrochen hat, und die Haut ist zum Glück auch nicht abgeschürft. Der leichte Schmerz der Prellung wird vermutlich bald vergessen sein.
»Entschuldigung. Ich war abgelenkt.« Sie richtet sich auf. »Kann ich helfen?« Sie hat das erbettelte Geld bemerkt, das um den Almosensammler herum verstreut liegt. Sofort beginnt sie, es aufzulesen.
»Untersteh‘ dich, davon etwas zu behalten!«
Runa blickt zweifelnd zum Bettler. Sie ist überzeugt, die Stimme bereits einmal gehört zu haben. Wie zur Bestätigung kriechen einige Strähnen von kupferroten Haaren unter einem schäbigen Tuch hervor, das um den Kopf geschlungen ist.
Im ersten Moment will sie erbost erwidern: »Wieso sollte ich dir Geld klauen, Katie? Du hast es sicher unter falschem Anschein erbettelt. Oder konntest du ein Kind verkaufen?« Doch das verkneift sie sich. Es ist offensichtlich, die inzwischen junge Frau hat sie nicht wiedererkannt. Da ist es besser, es bleibt so. Anstatt weiterzusuchen, wirft sie Katie die aufgeklaubten Geldstücke in den Schoß.
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