Ein weiterer Zufall wollte es, dass erst Paulina und nun auch Schneidlinger in Passau landeten und er somit eine vertraute Ratgeberin in seiner Nähe hatte. Natürlich war ihm bewusst, dass niemand, der die Vorgeschichte zu dieser Freundschaft kannte, ihm glauben würde, dass sie wirklich nur gute Freunde waren.
Darum war Schneidlinger immer besonders vorsichtig, wenn er zu Paulina ging, um Fragen nach der Art ihrer Beziehung gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Nachdem er am gestrigen Abend mit ihr telefoniert hatte, hatte er seinen Porsche Boxster wenig später in der Heilig-Geist-Gasse geparkt und war zu Fuß zu ihrer Altbauwohnung hoch über der Passauer Fußgängerzone gegangen, wo sie ihn schon vor der Wohnungstür erwartete.
Barfuß, in einem weißen Sommerkleid, die Haut sanft gebräunt, die langen schwarzen Haare zu einem lockeren Zopf geflochten, die Fußnägel rot lackiert. Wie immer war Schneidlinger von ihrer Schönheit fasziniert, und wie immer stellte er sich vor, was wäre, wenn es nicht bei einer freundschaftlichen Umarmung bliebe.
Doch dann hatten sie über seine Entdeckung im Fall Sophia Weberknecht gesprochen, Wein getrunken und überlegt, was Schneidlinger in dieser Sache unternehmen sollte und konnte, ohne sich unbeliebt zu machen.
„Gib dem Hollermann eine Chance“, hatte Paulina schließlich vorgeschlagen, weil sie wusste, wozu Männer um ihrer Karriere willen imstande waren.
Schneidlinger hatte sich die Möglichkeit bei einem Schluck Wein durch den Kopf gehen lassen, und als kurz darauf die Meldung kam, dass im Oberhaus ein toter Mann gefunden worden war, hatte er es als Zeichen des Himmels gedeutet, gelächelt und beschlossen: Hollermann würde seine Chance bekommen.
Ein letztes Mal wischte Schneidlinger mit dem Spüllappen das Becken aus und ging dann zu seinem Schreibtisch. Er hatte einen Termin im Heinrichsbau bei Oberstaatsanwalt Schwertfeger, weil der am Vormittag wegen einer Gerichtsverhandlung nicht an der Besprechung hatte teilnehmen können und jetzt einen mündlichen Bericht einforderte. Eine gute Gelegenheit, wie Schneidlinger fand, um mal über das eine oder andere zu sprechen.
Kurze Zeit später klaubte der neue Chef des K1 seine Wagenschlüssel vom Schreibtisch, zog sein Jackett über und ging mit einem knappen Nicken an Ramona vorbei. Auf dem Gang stieß er auf den Kollegen Gruber, der sich gerade seine langen Haare zu einem Zopf band und in der Spiegelung der Glastür seinen eingezogenen Bauch bewunderte. Als er Schneidlinger entdeckte, ließ er verlegen von Bauch und Mähne ab und rief freudig: „Ah, Chef! Wir haben das Kennzeichen von Mautzenbachers Auto. Ich habe es zur Fahndung rausgegeben.“
Schneidlinger nickte anerkennend. „Gut. Sehr gut.“ Dabei klopfte er Gruber auf die Schulter.
Gruber warf seine Haare nach hinten und lächelte dann unsicher. „Ja, dann will ich mal wieder.“ Er schob das Gummiband in die Hosentasche und sah zu Schneidlinger, doch der steuerte schon die Tür an. Er hatte es eilig. Er legte Wert auf Pünktlichkeit, bei anderen und natürlich auch bei sich selbst.
Als er mit seinem Auto vom Polizeiparkplatz rollte und sich in Richtung Haitzinger Brücke in den allabendlichen Berufsverkehr einreihte, sah er auf seinem Display den eingehenden Anruf von Franziska Steinbacher. Na, bitte, da geht doch was, dachte er und nahm ab.
„Tut mir leid, Chef, aber wir kommen hier nicht weiter. Von den Mitarbeitern hat niemand etwas gesehen, und ohne Zeugen können wir weder einen Täter finden noch einen Unschuldigen entlasten“, keuchte sie etwas kurzatmig, und Schneidlinger hatte das Gefühl, als habe sie das Ganze auswendig gelernt.
„Immer mit der Ruhe, Frau Steinbacher. Ich habe bereits mit der Journalistin Kathrin Selig gesprochen. Sie wird einen Artikel über unseren Mord schreiben. Sie arbeitet sehr professionell, ich glaube das wird uns weiterhelfen.“ Schneidlinger lauschte in sein Handy und versuchte gleichzeitig, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. „Sind Sie noch dran?“
„Ja, aber der Empfang ist hier oben sehr schlecht“, sagte Franziska, was ihr Schneidlinger aber nicht glaubte. Er hatte gehört, dass sie eine Hand auf die Sprechmuschel gelegt und mit jemandem gedämpft gesprochen hatte. Wahrscheinlich Kollege Hollermann, dachte Schneidlinger.
„Kathrin Selig“, fuhr er unbeirrt fort, „die kennen Sie doch vom Fall Weberknecht. Das ist die Journalistin, die Sie nach dem Tod von Hajo Felbermann über dessen Arbeit für die Zeitung befragt haben.“
„Das ist gut!“, erklärte Franziska aufs Geratewohl und fügte hinzu, dass man in so einem Fall auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen sei.
Schneidlinger passierte die Zufahrt zum Innenhof der Staatsanwaltschaft und fuhr auf einen der wenigen freien Parkplätze zu. Kurz berichtete er der jüngeren Kollegin von Grubers Entdeckung und beendete das Gespräch mit den Worten: „Ich muss jetzt aufhören, ich habe einen Termin.“
Ohne Hast stieg der Hauptkommissar die breite Steintreppe empor und gelangte schließlich zum Büro des leitenden Oberstaatsanwalts, der ihn bereits erwartete. Nach einem Blick auf die Uhr ließ der den Single Malt stehen und bat stattdessen bei seiner Sekretärin um Kaffee. Schneidlinger nickte zustimmend und setzte sich auf den angebotenen Platz dem Oberstaatsanwalt gegenüber.
„Was können Sie mir denn über den neuen Fall berichten?“ Schwertfeger beugte sich ein wenig über seine gefalteten Hände und lächelte den Hauptkommissar auffordernd an.
„Nun“, eröffnete Schneidlinger, las von seinem vorläufigen Bericht die wichtigsten Informationen ab und ergänzte dann: „Interessant ist die Wohnsituation, die völlig gegensätzlich zu der Art und Weise steht, wie sich der Tote am späteren Tatort präsentierte.“
Der Oberstaatsanwalt legte nachdenklich die Stirn in Falten.
„Mautzenbacher trug zum Beispiel eine echte Rolex, sagte dem Nachbarn aber, sie sei nur ein Imitat. Warum? Ebenso rätselhaft sind die gefundenen zwanzigtausend Euro. Woher hatte Mautzenbacher die, und warum trug er sie bei einem Besuch der Veste Oberhaus bei sich? Weil er mit dem Täter verabredet war und sie dem geben wollte? Oder musste? Aber warum nahm sie der Täter dann nicht an sich? Oder ahnte der Täter nicht, dass er sein Opfer treffen würde, und wusste somit auch nichts von dem Geld? Sie sehen, der Fall wirft viele Fragen auf.“
Schneidlinger sah Schwertfeger erwartungsvoll an, dann zur Tür, die sich gerade öffnete. Die Sekretärin des Oberstaatsanwalts betrat mit einem Tablett in der Hand den Raum.
„Was werden Sie also unternehmen?“, fragte Schwertfeger.
„Nach der Pleite in der Wohnung haben wir Mautzenbachers Auto zur Fahndung ausgeschrieben, und ich habe einen Zeugenaufruf an die Presse rausgegeben. Vielleicht kann uns ja bald schon jemand etwas zu diesen Widersprüchen sagen.“
Der Oberstaatsanwalt nickte und schwieg, bis seine Sekretärin die Kaffeetassen verteilt hatte. „Und bei Facebook sind Sie auch nicht fündig geworden?“
Der Hauptkommissar lachte kurz auf. Zuhause erklärte er seinen Kindern, sie sollten sich genau überlegen, was sie in dieser Community von sich preisgaben, und im Beruf griff er immer wieder gern und erfolgreich auf genau diese kostenlose Datensammlung zurück. „Nein, zumindest nicht unter seinem richtigen Namen.“
„Was sagt die Gerichtsmedizin?“
Schwertfeger dachte an alles. Doch damit hatte Schneidlinger gerechnet und wiegelte dessen Erwartung sofort ab.
„Oh, das kann dauern. Die Ärzteschaft streikt doch mal wieder, und diesmal machen sie noch nicht einmal vor den Toten halt.“
Schwertfeger rührte in seiner Kaffeetasse und blieb stumm. Er überlegte, was sein ehemaliger Studienfreund und früherer Hauptkommissar Berthold Brauser in diesem Fall getan hätte.
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