„Frau Meisel?“, sprach die Kommissarin eine schlanke ältere Dame an, die trotz der Hitze in einem dunklen Leinenkostüm hinter der Kasse saß. Franziska zeigte ihren Ausweis. „Franziska Steinbacher von der Mordkommission Passau. Ich hätte ein paar Fragen an Sie.“
„Oh, ja, natürlich. Einen Moment bitte, ich muss nur noch schnell die nächste Gruppe abkassieren!“
Franziska nickte und stellte sich, um Platz zu machen, zu einem Tisch, auf dem Prospekte ausgelegt waren. Hannes folgte ihr. „Wahnsinn, was man in Passau alles anschauen kann. Wusste gar nicht, dass wir in einer so interessanten Stadt leben.“
Franziska sah Hannes prüfend an. Doch er schien es ernst zu meinen.
„Man nimmt sich einfach zu wenig Zeit …“
„So, ich wäre jetzt so weit.“ Mit federnden Schritten kam Petra Meisel zu ihnen herüber. „Heute ist hier die Hölle los.“ Franziska nickte. Obwohl noch nichts in der Zeitung stand, hatte sich die Nachricht von einem Toten in der Burg natürlich blitzschnell herumgesprochen.
„Sie saßen gestern Nachmittag an der Kasse?“, begann Franziska mit ihren Fragen.
„Ja, von eins bis fünf!“
„Und erinnern Sie sich auch an diesen Mann?“ Franziska hielt der Kassiererin das Foto aus Mautzenbachers Wohnung entgegen.
„Ja, sicher“, bestätigte die Frau. „Sehr gut sogar. Ein ganz außergewöhnlicher Mann.“
Franziska straffte die Schultern. Es wurde spannend. „Wie meinen Sie das?“
„Nun, es war ein Mann ohne Seele!“
Die beiden Kommissare wechselten einen schnellen Blick und sahen dann wieder zu Petra Meisel.
„Ist Ihnen das noch nie aufgefallen?“, fragte diese ganz selbstbewusst und lieferte gleich darauf die Erklärung. „Wenn Sie einen Menschen anschauen, ich meine so richtig anschauen – nicht nur ins Gesicht, sondern in die Augen und durch die Augen hindurch, bis in die Seele … dann erst wissen Sie, wen Sie vor sich haben!“
Sie ließ den Kommissaren Zeit, um ihre Ansicht zu verinnerlichen.
„Nicht jeder Mensch ist gleich. Es gibt Menschen, die haben eine junge“, sie lächelte, „beinahe verspielte Seele. Die müssen noch viel durchmachen, um zu reifen. Und dann gibt es Menschen, die haben eine alte Seele, eine, die schon viele Leben hinter sich hat. Sie ist voller Weisheit und Erfahrung, und man merkt das den Menschen mit so einer alten Seele auch an. Ja, und dann gibt es noch die ohne Seele, ohne Gewissen. Die sind zu allem fähig. Wenn ich solche Leute treffe, dann schaudert es mich, aber es ist auch sehr interessant, sie zu beobachten.“
„Gibt es viele solcher … Seelenlosen?“, fragte Franziska und merkte zu spät, worauf sie sich da gerade eingelassen hatte.
„Oh ja! Aber es ist mir selten so sehr aufgefallen wie bei diesem Mann!“ Petra Meisel zeigte auf das Foto, das Franziska noch immer in der Hand hielt. Sie sah nun selbst darauf, suchte in seinem Blick nach einem Merkmal, um künftig Menschen ohne Seele erkennen zu können, als Hannes sich räusperte.
„War der Mann allein, oder war er in Begleitung?“, fragte er, um wieder auf ihr eigentliches Anliegen zurückzukommen. Im Vergleich zu seiner Kollegin hatte sich Hannes nämlich überlegt, wie sich die Exkursion in die Seelenvariationen der Menschheit in ihrem späteren Bericht machen würde.
„Er war allein. Zumindest kaufte er sich nur ein Einzelticket.“
„Ihnen ist also niemand aufgefallen, der sich für Herrn Mautzenbacher interessiert hätte?“, fragte Hannes eindringlicher.
„Nein, offen gestanden nicht.“
„Dann eine andere Frage: Kennen Sie diesen Mann?“ Hannes zog ein Foto von Walter Froschhammer aus seinem Notizbuch, und als Franziska erkannte, um wen es sich handelte,
sog sie hörbar die Luft ein. Hannes stieß sie mit dem Ellenbogen unauffällig in die Seite.
„Aber das ist doch der Künstler, der die neuen Räume gestaltet, dieser …“, sie überlegte, schien aber nicht auf seinen Namen zu kommen. Dann huschte ein feines Lächeln über ihr Gesicht. „Dieser Mann hat zum Beispiel eine alte Seele, sehen sie!“ Sie zeigte auf seine Augen.
„Können Sie das auf einem Foto erkennen?“, fragte Franziska ungläubig.
Petra Meisel lachte. „Nein, natürlich nicht. Aber ich habe mich schon ein paar Mal mit ihm unterhalten. Er geht ja hier ein und aus. Und er ist einfach faszinierend, wenn ich das so sagen darf.“
Um ein Haar hätte Franziska sie gefragt, ob der Künstler sie am Ende schon gemalt hatte, als Hannes die beiden Frauen wieder auf Kurs brachte.
„Walter Froschhammer war gestern Nachmittag in der Burg. Haben Sie ihn gesehen?“
„Walter Froschhammer, genau, so heißt er.“ Frau Meisel sah Hannes an und nickte. „Ja. Er kam, als ich gerade anfing.“
Hannes ließ nicht locker. „Und wann ging er wieder?“
„Hm, lassen Sie mich mal überlegen. Vielleicht so gegen zwei? Zumindest glaube ich, dass ich ihn da gesehen habe. Da kam ein Geschichtskurs aus dem Adalbert-Stifter-Gymnasium, die hatten sich für die Führung ‚Von der mittelalterlichen Burg zur barocken Festung‘ angemeldet. Gestern war ganz schön was los“, fügte sie erklärend hinzu.
„Das heißt, Sie wissen nicht mit Sicherheit, ob Walter Froschhammer um zwei Uhr das Oberhaus verlassen hat?“, versuchte Hannes die Aussage von Petra Meisel zu präzisieren.
„Nein. Sicher bin ich mir nicht.“
Hauptkommissar Josef Schneidlinger saß an seinem neuen Schreibtisch und kratzte mit dem Löffel den letzten Rest Milchschaum aus seiner Tasse. Dann stand er auf, ging zur Spüle und begann, das Geschirr sorgsam abzuwaschen. Er liebte diese Art der Beschäftigung, gab sich voller Eifer dem Bürsten und Durchspülen hin. Für ihn war Abwasch keine Arbeit, sondern eine Möglichkeit, um in Ruhe nachzudenken.
Nachdem Obermüller und Gruber gerade alle sozialen Netzwerke und Internetforen durchforsteten, um vielleicht auf diesem Wege etwas über Xaver Mautzenbacher herauszufinden, hatte es Schneidlinger auf dem altmodischen Weg versucht und seine Kontakte spielen lassen. Einer seiner Informanten war Acarbay Özdemir. Der kleine korpulente Mann mit dem großen Namen betrieb im Münchner Bahnhofsviertel ein florierendes Import-Exportgeschäft, wobei die meisten seiner Geschäfte legal waren. Er holte Früchte und Textilien aus der Türkei und lieferte Elektrogeräte und Computer nach Istanbul. Nebenbei, um seine lauteren Geschäfte finanziell abzusichern, war er Teil eines großen illegalen Netzwerkes. Eine Sache, der Schneidlinger einst auf die Schliche gekommen war, sie nicht weiter verfolgt hatte und dafür immer noch ausnutzen konnte. So wie jetzt im Fall Mautzenbacher, als es darum ging, die Herkunft der Rolex zu überprüfen, die, wie Obermüller herausgefunden hatte, nirgends gestohlen gemeldet war.
Vor einer Stunde hatte Schneidlinger mit Acarbay telefoniert, und der hatte ihm versichert, er werde sich umhören.
Mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen räumte der Hauptkommissar sein Geschirr zurück in den kleinen Schrank unter dem Kaffeeautomaten und bemerkte nicht, dass seine Gedanken sich nicht mit dem Fall Mautzenbacher beschäftigten, sondern von seinem Freund Acarbay zu einer anderen Münchner Bekanntschaft gewandert waren.
Denn auch Paulina hatte er während Ermittlungen kennengelernt, allerdings auf eine ganz andere Art als Acarbay.
Die junge Frau jobbte neben ihrem Studium für einen Escortservice, und im Rahmen dieser Tätigkeit wurde sie zum Alibi eines Hauptverdächtigen, der in einen großen Wirtschaftsbetrug verwickelt war. Als alles vorbei war, trafen sich Schneidlinger und Paulina zufällig in der Stadt, und nachdem Paulina ihr Studium beendet und ihren verruchten Job an den Nagel gehängt hatte, entstand eine solide Freundschaft zwischen den beiden.
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