Ilka-Maria Hohe-Dorst - Die Berlinerin

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Kurz nachdem Erik Durantes Alltag durch den Unfalltod seiner Mutter aus dem Gleichgewicht geraten ist, lernt er seine Kommilitonin Nadja kennen. Aus finanziellen Gründen muss er sein Studium abbrechen und wird arbeitslos, Nadja hingegen findet nach ihrem Abschluss eine gutbezahlte Stelle.
Mit der Zeit wächst Erik in die Rolle eines Hausmanns hinein, die ihn bald nicht mehr befriedigt. Als er in der Hanauer Innenstadt Besorgungen macht und anschließend in ein Restaurant geht, trifft er auf eine Frau, der er spontan Nadjas Kleid überlässt, das er aus der Reinigung geholt hat. Unklar über sein Motiv für diese Reaktion versucht er reumütig, das Kleid zurückzubekommen, nachdem er begriffen hat, dass es Nadja viel bedeutet.
Als er die fremde Frau wiederfindet, ist sie auf dem Weg nach Berlin. Sie trägt Nadjas Kleid. Erik folgt ihr zum Bahnhof. Er steigt zu ihr in den Zug und gerät auf eine Reise in die Tiefen seines Unterbewusstsein.
Als er von seiner Fahrt nach Berlin zurückkommt, weiß er, dass er zwischen zwei Fronten geraten ist: Auf der einen Seite steht die machtbewusste Nadja, von der er abhängig ist und die alle Register ziehen wird, ihn zu halten, auf der anderen Seite die spröde Berlinerin, in der er die große Liebe seines Lebens sieht. Erik ist klar, dass er an einem Wendepunkt steht und eigenständig werden muss, und er weiß, dass er dafür nur begrenzt Zeit hat. Denn unversehens taucht ein Rivale auf …

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Ilka-Maria Hohe-Dorst

Die Berlinerin

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Inhaltsverzeichnis

Titel Ilka-Maria Hohe-Dorst Die Berlinerin Dieses ebook wurde erstellt bei

Das Kleid

Der Zug

Prenzlauer Berg

Sommersprosse

Köln

Eskalation

Brief aus Berlin

Weihnacht

Mr. Right

Café Choccocino

Die Entscheidung

Freunde

Rivalen

Potsdam

Café Haferkater

Berlin-Wedding

Der Hinterhalt

Julians Warnung

Der Seidenschal

Hanau

Koma

Epilog

Impressum neobooks

Das Kleid

Eriks Magen rumorte. Was in gedämpften Intervallen begonnen hatte, war mittlerweile einem lauten Knurren gewichen, das sich nicht mehr ignorieren ließ. Also überlegte er, wo er sich zum Mittagessen niederlassen konnte, um nicht bald vor Entkräftung mitten in der Hanauer Innenstadt weiche Knie zu bekommen.

Wie jeden Morgen hatte sein Frühstück lediglich aus schwarzem, ungesüßtem Kaffee bestanden, was ihm Nadjas missbilligenden Blick eingetragen hatte. Sie hielt es für unvernünftig, sich den leeren Magen mit Kaffee vollzupumpen, aber Erik war ein Morgenmuffel, der erst in Schwung kommen musste, ehe er etwas Festes kauen und schlucken konnte.

Nachdem Nadja zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Erik wie gewohnt den Frühstückstisch abgeräumt, die Tassen und Teller zusammen mit dem Geschirr vom Vortag gespült, abgetrocknet und in die Hängeschränke einsortiert. Dann hatte er ihre „To‑do“‑Liste in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt und sich auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Er war fast zwei Stunden unterwegs gewesen, um ihre Aufträge zu erledigen, ehe er die Reinigung ansteuerte, um ihr Kleid abzuholen. Die Bedienung hinter der Ladentheke hatte eine Ewigkeit danach gesucht, und Erik war unwohl geworden bei dem Gedanken, es könne sich unter der Einwirkung von Chemikalien restlos aufgelöst haben, was unweigerlich Nadjas Zorn und tagelange schlechte Laune nach sich gezogen hätte. Als man es ihm, in eine transparente Schutzfolie gehüllt, endlich überreichen konnte, war ihm ein Stein vom Herzen gerollt.

Mit dem Kleid über der linken Schulter, so dass der Haken des Drahtbügels, der aus der Folie ragte, bei jedem Schritt gegen seine Rippen wippte, erreichte er das Steakhaus im Hotel „Römerhof“. Er fand auf Anhieb einen freien Tisch und warf, während er sich setzte, seine unbequeme Bürde über die Rückenlehne des Nachbarstuhls.

„Ich kann Ihnen das argentinische Rib Eye Steak mit Folienkartoffel und Sour Cream empfehlen.“ Die Bedienung, eine hübsche junge Frau mit einem Pferdeschwanz, die schlanke Figur in hautenge Jeans und eine weiße Bluse gekleidet, lächelte Erik aufmunternd zu. In den Händen hielt sie Block und Kugelschreiber bereit, um die Bestellung aufzunehmen. „Oder möchten Sie die Speisekarte sehen?“

Er winkte ab. „Nein danke. Mir genügt etwas Einfaches, möglichst Leichtes.“

„Dann vielleicht gebratene Garnelen mit Schalotten und Cherry-Tomaten?“

„Klingt gut. Dazu bitte ein Glas Weißwein, trocken.“

„Kalifornischen oder lieber einen Württemberger?“

„Der Württemberger wäre perfekt.“

Sie strahlte ihn an. „Kommt in fünfzehn Minuten. Der Wein natürlich sofort.“

Erik sah ihr mit Wohlwollen nach, wie sie in die Küche tänzelte. Er mochte Menschen, die von ihrem Job erfüllt waren und ihren Kunden das Gefühl gaben, soeben den Ritterschlag empfangen zu haben.

In Erwartung seines schlichten Mahls lehnte er sich auf seinem Sitz zurück und bedankte sich bei einem älteren Kellner, der ihm den Weißwein servierte. Wenigstens ließ ihm Nadja genügend Freiraum, dass er sich ein- bis zweimal in der Woche diesen bescheidenen Luxus leisten konnte. Andere Frauen wären bei ihrem schmalen Budget bestimmt kleinlicher und ließen ihn aus Dosen und Büchsen vom Discounter essen, als sei er ein Hauskater. Schließlich entging ihm nicht, wie es bei anderen Paaren in seinem Freundeskreis zuging. Nadja hingegen verzichtete sogar darauf, dass er über jeden Cent der Ausgaben, die bei den täglichen Erledigungen anfielen, am Wochenende Rechenschaft ablegte.

Erik hatte es lange Zeit für ein großes Glück gehalten, Nadja gefunden zu haben. Oder genauer gesagt: Sie hatte ihn gefunden. Bis dahin hatte er sie im Vorlesungssaal der Goethe-Universität nur flüchtig wahrgenommen, geschweige denn jemals ein Wort mit ihr gewechselt, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sie könne auf ihn, der sich für zurückhaltend und unauffällig hielt, aufmerksam geworden sein. Doch als er den ersten Tiefpunkt seines noch jungen Lebens erfahren und sich von Gott und der Welt verlassen geglaubt hatte, war sie auf ihn zugekommen. „Ich bin Nadja Seeler und möchte dich auf ein Eis einladen“, hatte sie mit kokettem Lächeln, aber tiefem Ernst in den Augen zu ihm gesagt. „Du wirkst ein bisschen verloren, und ich denke, jemand sollte sich um dich kümmern.“

Ihre ungespielte Offenheit hatte ihn verblüfft, so dass er auf ihr Angebot eingegangen und ihr ins Eiscafé Michielin gefolgt war, das nur eine U-Bahn-Station vom Campus entfernt lag . Nachdem die Bedienung ihre Bestellung serviert hatte, war Nadja ungeniert auf den Punkt gekommen: „Ich beobachte seit Wochen, wie du lustlos im Hörsaal herumlümmelst. Durchhänger sind schon mal drin, aber bei dir scheint es ein Dauerzustand geworden zu sein. Läuft’s etwa mit dem Studium nicht?“

„War schon besser. Aber das ist es nicht.“

„Was quält dich dann? Raus damit!“

Erik hatte gezögert, weil er es grundsätzlich für aufdringlich, wenn nicht gar peinlich hielt, andere Menschen mit seinen Sorgen zu behelligen. Andererseits hatte er Nadja, die aufrichtig an ihm interessiert zu sein schien, nicht vor den Kopf stoßen wollen. Auch hatte er begriffen, dass sie nicht der Typ war, der schnell aufgab, sondern über ein unerschöpfliches Repertoire verfügte, einem introvertierten Menschen wie ihm auf die Sprünge zu helfen. „Komm schon! Es kostet doch nichts, sich den Kummer von der Seele zu quatschen. Bleibt auch alles unter uns. versprochen.“ Zur Bekräftigung ihrer Aufrichtigkeit hatte sie die flache Hand auf die Stelle ihrer Brust gelegt, wo das Herz schlägt, so dass Erik sich einen Ruck gab und begann, erst stockend, dann immer flüssiger zu erzählen.

*****

„Mama, du isst ja wieder nichts.“

„Tut mir leid, Erik.“

Er hatte gekocht. Wie jeden Abend. Und wie jeden Abend konnte Margret Durante, die mit dunklen Augenringen vor ihrem Teller saß, vor Müdigkeit kaum das Besteck halten.

„Dein Essen schmeckt wie immer großartig, Erik, an dir ist wirklich ein Sternekoch verloren gegangen. Aber ich bin fix und fertig und gehe besser schlafen.“

Meistens sank sie noch angekleidet auf ihr Bett und zog sich erst am Morgen aus, um zu duschen und sich frische Kleidung überzustreifen. Sie nahm bedenklich schnell ab. Erik plagten Schuldgefühle, denn Margret hatte sich ein Ziel gesetzt, von dem nicht einmal Gott sie hätte abbringen können: Erik sollte studieren, und dafür war ihr jeder Einsatz recht. Sie fuhr mit ihrem Taxi erheblich mehr Stunden am Tag, als gesetzlich zulässig waren, denn nur so konnte sie genügend Geld nach Hause bringen, dass es für den Unterhalt und die Finanzierung des Studiums reichte.

Eigentlich Drogistin von Beruf, hatte sich Margret als Taxifahrerin selbständig gemacht, nachdem ihr Arbeitgeber gezwungen gewesen war, seine Drogerie zu schließen und die Mitarbeiter zu entlassen. Mit den Drogerieketten, die immer stärker den Markt beherrschten, hatte er auf Dauer nicht konkurrieren können. Margaret musste schon bald begreifen, dass sie keine Chance hatte, bei einer dieser Drogerieketten ausreichend entlohnt zu werden, um ihren Lebensstandard und Eriks Studium weiterhin finanzieren zu können. Eine Fernsehdokumentation über Taxifahrer in Berlin hatte sie schließlich auf die Idee gebracht, für die Taxifahrerprüfung zu lernen, einen Kredit aufzunehmen und ein Fahrzeug zu leasen. Das Risiko, das mit einer unternehmerischen Tätigkeit verbunden gewesen war, hatte ihr zwar Herzdrücken bereitet, war ihr jedoch annehmbarer erschienen, als sich arbeitslos zu melden und dem Staat auf der Tasche zu liegen.

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