Erik hielt sich abseits und behielt den Bahnsteig im Blick. Die Frau interessierte sich weder für das Display, noch für die einlaufenden Züge. Erst als gegen 15:30 Uhr der Zug nach Berlin einrollte, blickte sie auf, packte ihre Zeitschriften und die Tageszeitung zusammen und schob sie in ihre Umhängetasche. Dann erhob sie sich und zog ihren Rollkoffer die Waggons entlang, bis sie die richtige Nummer fand, wartete, bis alle Fahrgäste ausgestiegen waren, und kletterte hinauf.
Als sie verschwunden war, stieg Erik ebenfalls ein. Er sah, dass sie nach ihrem reservierten Sitz suchte und sich an einen Fensterplatz in der Mitte des Waggons niederließ. Erik blieb im Türbereich stehen, bis alle Fahrgäste eingestiegen waren und ihre Plätze eingenommen hatten. So verharrte er, bis die Türen geschlossen waren und der Zug sich behäbig wie ein sattes Tier in Bewegung setzte.
Einen Moment lang wunderte sich Erik über sich selbst. Auf was ließ er sich gerade ein? Warum war er nicht rechtzeitig ausgestiegen? Hatte er völlig den Verstand verloren?
Da er keine Antworten fand, schüttelte er die Fragen von sich ab und betrat entschlossen den Großraum des Waggons. Der Zug hatte das Bahnhofsgebäude hinter sich gelassen und Fahrt aufgenommen, so dass der Boden unter Eriks Füßen schwankte und er sich beim Vorwärtspendeln an den Sitzlehnen festhalten musste, bis er den Platz der Frau erreichte.
„Ich wusste es: Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet.“
Sie wandte ihren Blick vom Fenster ab und sah überrascht an Erik hoch. „Sie? Was machen Sie denn hier?“
„Ich wollte Sie wiedersehen. Einfach war’s nicht. Hat mich ziemlich viel Geduld gekostet und wäre auch beinahe schief gegangen.“
„Sie haben gar kein Gepäck dabei. Und für jemand, der auf Reisen geht, sind Sie ziemlich leicht bekleidet.“
Erik sah auf seine hellblaue Leinenhose und die braunen Sandalen hinunter und zuckte die Schultern. „Vor zwei Stunden hatte ich noch keine Ahnung, dass ich in diesen Zug steigen würde.“
Die Frau runzelte die Stirn. In ihren Augen stand Argwohn. „Sie sind nicht etwa auf Drogen … oder? Und Sie wissen hoffentlich, wo Sie wohnen. Was Sie tun, scheinen Sie jedenfalls nicht immer zu wissen.“
„Jahnstraße in Hanau, Altbau, zweiter Stock, Fenster zur Straße. Keine Drogen. Ihre dritte Vermutung stimmt allerdings, sonst hätten Sie ein anders Kleid an, und ich wäre jetzt nicht hier.“
Sie lächelte amüsiert. „Sie müssen völlig verrückt sein.“
„Ganz im Gegenteil, ich habe mich schon lange nicht mehr bei so klarem Verstand gefühlt wie gerade jetzt. Sie fahren bis Berlin?“
Sie nickte. „Prenzlauer Berg. Dort bin ich zu Hause.“
Er deutete auf den leeren Sitz neben ihr. „Darf ich?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich zu ihr.
Ein Schaffner betrat den Waggon, um die Fahrscheine der Reisenden zu kontrollieren. Erik löste bei ihm ein Ticket nach Berlin, was ihn beinahe seine gesamte Barschaft kostete und ihm beim Schließen seines Portemonnaies einen Seufzer entlockte. Die Frau konnte ihr Lachen nicht zurückhalten. „Sie sind wirklich ein total übergeschnappter Kerl. Hoffentlich haben Sie eine Kreditkarte dabei, sonst werden Sie in Berlin nicht weit kommen. Warum tun sie das alles überhaupt, Mr. Crazy?“
Erik blickte einen kurzen Moment zum Fenster hinaus, um über seine Antwort nachzudenken. Draußen schien die Landschaft an ihm vorbeizufliegen. „Mag sein, dass ich einen reichlich schrägen Eindruck auf Sie mache“, gab er schließlich zu, „aber die Wahrheit ist, dass ich Sie nicht noch einmal aus den Augen verlieren will, nachdem ich Sie wiedergefunden habe.“
„Was meinen Sie mit ‚wiedergefunden‘? Sie kennen mich doch gar nicht.“
Statt auf die Frage einzugehen, zog Erik es vor, das Thema zu wechseln. „Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“
Sie zögerte kurz, ehe sie antwortete. „Romina Bonero. Meine Freunde nennen mich Romy.“
„Hübscher Name. Gefällt mir.“
„Eigentlich heiße ich Rosa-Maria Müller. Banal und scheußlich altmodisch, finden Sie nicht? Romina Bonero ist mein Künstlername.“
„Oh, und was machen Sie?“
„Was ich mache? Ich sitze in einem Zug und lasse mich auf eine Unterhaltung mit einem durchgeknallten Waggonhopper ohne Gepäck ein, der versucht, mich anzubaggern.“
Erik musste über ihre Schlagfertigkeit lachen. „Der Punkt geht an Sie, Romy Bonero. Also nochmal meine Frage: Was machen Sie künstlerisch, um Ihre Brötchen zu verdienen?“
„Verschiedene Dinge. Modell stehen für Versandhaus-Mode, fotografieren für Zeitschriften. Manchmal bekomme ich auch Aufträge, für Reportagen zu recherchieren. Ich mache alles Mögliche, sozusagen querbeet, solange es sich für mich spannend anhört.“
„Eine ‚Hanna-Dampf in allen Gassen‘ also, die für den Job eines Vorzimmerdrachen nicht zu begeistern wäre.“
„Ich bin gerne unabhängig. Routine und Bürostaub würden mich umbringen.“
„Was haben Sie in Hanau gemacht? Das ist nicht gerade eine der interessantesten Städte in Deutschland. Nicht einmal in Hessen.“
„Sagen Sie das nicht, Mr. Crazy. Wie heißen Sie eigentlich?“
„Erik. Erik Durante. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, ein verkrachter Student der Soziologie, ohne Berufsausbildung und arbeitslos. Was möchten Sie noch wissen?“
„Das genügt, den Rest sehe ich selbst“, antwortete Romy mit wohlwollendem Blick, der Erik nicht entging. Obwohl er nicht die Jugendausgabe eines Harrison Ford war, fanden ihn die meisten Frauen attraktiv, besonders wegen des Kontrasts seines breiten Kinns und der kräftigen, etwas zu langen Nase mit seinen ansonsten weichen Gesichtszügen. Dazu war er groß und gut gebaut, ein Jogging-Typ.
„Also, Mr. Crazy“, schickte sich Romy an, seine Frage zu beantworten, „ich war hier, um für eine Reportage über die demokratischen Bewegungen in Hanau von 1830 bis zur Revolution von 1848 zu recherchieren. Auch über die damals entstandene erste Eisenbahnstrecke von Hanau nach Frankfurt.“
„Klingt ziemlich anspruchsvoll. Für wen machen Sie das?“
„Für die Berliner Morgenpost. Von Hanau gingen wichtige revolutionäre Impulse aus.“
„Wieso interessiert man sich in Berlin dafür, was vor beinahe zweihundert Jahren in Hanau passierte?“
„Die Reportage ist Teil einer Serie über die gesamte deutsche Revolution.“
„Die gescheitert ist.“
„Wie fast alle Revolutionen.“
Sie schwiegen eine Weile. Erik schaute wieder zum Fenster hinaus, und während er die sonnenbeschienene Landschaft unter dem blauen, wolkenfreien Himmel in sich aufnahm, überkam ihn ein seit langem nicht mehr gekanntes Gefühl der Freiheit.
„Sie können in Fulda aussteigen und zurückfahren“, nahm Romy den Faden wieder auf. „Ehe Ihre Familie eine Vermisstenanzeige aufgibt.“
Erik sah sie an und schüttelte den Kopf. „Ich habe bis Berlin gelöst, und so einfach werden Sie mich nicht wieder los.“
„Ich fürchte, darüber werden Sie noch einmal nachdenken müssen, Mr. Crazy. Wem gehörte eigentlich das Kleid, bevor Sie es für mich vom Himmel fallen ließen?“
„Meiner Lebensgefährtin. Nadja. Sie ist darüber unglücklich und hat sich mit den Leuten von der Reinigung angelegt. Weil ich mich bei ihr damit rausgeredet hatte, man hätte es nicht finden können.“
Romy schwieg eine Weile. Sie schien beeindruckt zu sein, als habe sie eine wild konstruierte Lügengeschichte erwartet, die ihr einen plausiblen Grund unterjubeln sollte, weshalb Erik das Kleid ihr überlassen hatte und ihr eine Woche später bis in den Zug gefolgt war, vielleicht Floskeln wie „meine Frau und ich verstehen uns nicht mehr“ oder „sie hat den Fummel nur noch getragen, um andere Männer anzumachen“ oder „ich bin gerade Single, und das Kleid stammt noch von einer Verflossenen“. Doch offensichtlich nahm sie Erik beim Wort. „Zwischen Ihrem Mädel und Ihnen scheint es nicht mehr zu stimmen.“ Erik antwortete nicht. „Sie haben recht, Mr. Crazy, es geht mich nichts an. Wenn wir in Berlin sind, bekommen Sie das Kleid zurück und können es nach Hause mitnehmen. Ich werde Ihnen die Rückfahrt bezahlen, das fällt für mich unter abrechenbare Spesen. Sie haben mir eine wundervolle Geschichte geliefert, die ich aufschreiben und bei einem der Zeitungsverlage, für die ich arbeite, unterbringen kann.“
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