Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
Der Sergeant, dem gegenüber sie ihre Aussagen machte, der hatte Mühe, mit seinen Notizen hinterherzukommen.
Bald hatte sich eine größere Menschenmenge um den am Boden liegenden Politiker und die mittlerweile ringsum abgestellten Polizeifahrzeuge versammelt. Beamte waren dabei, die Unglücksstelle weiträumig abzusperren.
Ein Officer beugte sich in einen der Einsatzwagen und zog die Sprecheinheit des Funkgerätes aus der Halterung. Er hielt sich die Sprechmuschel direkt an den Mund, um die Geräusche um ihn herum abzuschirmen. Seine Augen wanderten aufmerksam in die Runde, während er seine Meldung in das Mikrophon sprach.
„Zentrale, hallo Zentrale, kommen, hört ihr mich? Hier Wagen 37 am Capitol Hill, der angeforderte Krankenwagen kann wieder zurück zum Hospital. Wir brauchen hier einen Leichenwagen. Ende.“
„Roger“, kam es von der anderen Seite lapidar zurück.
Nach einem paarmaligen Knacken in der Leitung des Empfangsgerätes krächzte es aus dem Lautsprecher: „Wer ist es denn, Jack?“
„Noch nicht eindeutig identifiziert, wird auch gar nicht so leicht sein bei dem erbärmlichen Zustand - aber laut Zeugenaussage, sie sagt, sie sei seine Sekretärin, scheint es der Senator Freyman von den Demokraten zu sein.“
„Was? Der? Okay, ich sag dann mal denen in der Gerichtsmedizin, dass Kundschaft vorbeikommt.“
Schnell verbreitete sich die Nachricht unter den immer zahlreicher werdenden Umstehenden am Fuß der Treppe, dass es sich bei dem Unfallopfer mit aller Wahrscheinlichkeit um den geheimnisumwitterten Dorian Freyman handeln müsse. Um den ‚Sohn der Gräfin‘, wie ihn einige respektvoll, die anderen dagegen eher abschätzig nannten.
Während diese Meldung die Runde machte, ging ein vernehmliches Raunen durch die Menge, aus dem man, von größtem Bedauern bis zu klammheimlicher Schadenfreude, das ganze Register verschiedenster Gefühlsregungen heraushören konnte.
Oben, über den Kopf der Treppe hinweg, ergoss sich plötzlich ein Pulk von Journalisten, die allesamt im Capitol akkreditiert waren. Mitten in ihre Mittagspause hinein hatten sie von dem Vorfall draußen Wind bekommen und kurzerhand alles liegen und stehen lassen. Ungestüm hetzten sie im schnellen Laufschritt die Stufen herunter.
Manche nahmen zwei oder drei Treppen auf einmal. Manche noch mehr. Einige stolperten.
Mit wehenden Sakkos und Krawatten stürmten sie nach unten, als ob es etwas zu gewinnen gäbe. Jeder von ihnen wollte als Erster einen Interviewpartner ergattern, als erster seine Redaktion anrufen.
Nicht wenige hatten noch ihr angebrochenes Lunchpaket in der Hand, andere stopften sich hastig den Rest eines Hot Dogs in den Mund.
„Leute, geht doch endlich auseinander! Hört ihr? Macht Platz. Wir wollen hier in Ruhe arbeiten. Geht nach Hause. Lasst dem Mann jetzt seinen Frieden!“
Die Stimme des Sergeants klang sehr ruhig, gemessen an dem sorgenvollen Blick, den er auf die anstürmende Meute der Reporter richtete. Die könnten ihn und seine Kollegen gleich noch weit mehr bedrängen, als es die neugierigen Gaffer bisher getan hatten.
Der Mann, der in Frieden gelassen werden sollte, das war noch wenige Momente davor der immer sympathisch wirkende und allseits beliebte Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, Dorian Freyman.
Er war zuletzt in allen Umfragen - trotz aller Gerüchte, die sich um ihn rankten - klarer Favorit gegen den derzeit amtierenden Präsidenten Gerald Ford, obgleich Freyman vom politischen Gegner mit allen möglichen Mitteln aufs schärfste bekämpft wurde. Mit sauberen Mitteln bekämpft und mit unsauberen. Vor allem mit unsauberen.
Dr. Dorian Jeremias Freyman, von seinen engeren Freunden auch Jerry genannt, entstammte einer hoch angesehenen New Yorker Familie.
Seit Jahrzehnten schon hatte sie der Stadt umfangreiche finanzielle Unterstützung für Museen, Denkmäler und soziale Einrichtungen zukommen lassen. Dorian Freymans Vater war der für seine hervorragende künstlerische Arbeit in aller Welt bekannte Architekt und Immobilienmogul Joseph Freyman gewesen.
Der war leider schon ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes Dorian gestorben.
Oder aber schon etwa vier Jahre vor dessen Geburt.
Und genau das war es, was die Medien und die gesamte Öffentlichkeit ständig beschäftigte.
Seine nach wie vor im Dunkeln liegende Herkunft, seine ungeklärte Identität.
Zeitlebens haftete dem Senator dieser Makel an und brachte ihn immer wieder in Bedrängnis. Weil er auch selber nie eine schlüssige Erklärung vorbringen konnte, was es mit diesem im Dunkel liegenden Umstand auf sich hatte.
Seine Mutter, Eleonora Freyman, war vor knapp zehn Jahren verstorben. Sie hatte zu ihren Lebzeiten den recht üppigen, der Stadt zugedachten Zuwendungen der Familie Freyman in der Öffentlichkeit jeweils publikumswirksam ihr schönes Gesicht gegeben.
Die Unklarheiten in den Geburtsdaten des Sohnes konnte sie allein mit ihrem attraktiven Aussehen aber auch nicht beiseite räumen. Auf Nachfragen erklärte sie die Unsicherheit darüber lapidar mit Nachlässigkeiten der seinerzeit zuständigen Kirchenschreiber.
Man könnte auch sagen, sie hatte das Thema für sich mit solchen Erklärungen abgetan. Selbstherrlich, und ohne einen Widerspruch zu dulden.
Schließlich war sie die Gräfin von New York.
Jedenfalls nannte sie sich so. Und viele in der New Yorker Gesellschaft taten das ebenfalls.
Sie jedenfalls glaubte, dank ihrer Autorität die Leute mit dieser expliziten Schuldzuweisung überzeugen zu können.
Die breite Öffentlichkeit konnte sie jedoch mit dieser dürftigen und immer spröde vorgetragenen Erklärung zur Identität ihres Sohnes nicht zufriedenstellen.
Die Geschwister von Dorian Freyman waren in der Gesellschaft weit weniger präsent, als seine Eltern und er selber es waren. Sieht man einmal von dem guten Namen ab, den sich sein älterer Bruder, der 1933 verstorbene John Freyman in der Welt der Pferdezucht erworben hatte.
Politisch aber waren die beiden Schwestern und der Bruder des Senators bisher nie besonders in Erscheinung getreten.
Auch sie hatten nichts zur Aufklärung der Ungereimtheiten über die Umstände der Geburt ihres viel jüngeren Bruders beitragen können, oder wollen.
Natürlich wussten die Geschwister, dass Dorian aus dem Waisenhaus zu ihnen ins Haus gekommen war. Aber sie respektierten zu jenem Zeitpunkt den Wunsch ihrer Mutter, den Jungen als echtes Familienmitglied anzuerkennen und ihn als Sohn von Joseph Freyman auszugeben.
Sie wurden gewahr, wie sehr sie ihn vergötterte und stimmten schließlich einhellig der für sie unbedeutenden Korrektur seines Lebenslaufes zu.
Es schadete ja auch niemandem.
Daher schlossen sie sich auch bei sporadischen Anfragen der Presse zu dem ungeliebten Thema solidarisch der Erklärung der Gräfin an: vermutlich Schludrigkeiten bei den pastoralen Schreibkräften.
Der Hauptangriffspunkt seiner politischen Kontrahenten war und blieb darum auch immer das Geheimnis um Dorian Freymans tatsächliches Alter und die damit zwangsläufig verbundene Unklarheit über seine wahre Abstammung. Denn an ein medizinisches Wunder glaubte niemand.
Tote können keine Kinder zeugen. Eine Geburt ohne physische Zeugung? So etwas glaubten selbst die Katholiken im Lande nicht, obwohl ihre Religion maßgebend auf solch Abwegigkeit aufbaut.
Und wenn er wirklich erst vier Jahre nach dem Tode seines Vaters auf die Welt gekommen war? Dann war dieser Vater eben nicht sein Vater. Punkt.
So einfach war das. Aber wenn es so war, wer war er dann? Wer war dieser Dorian Freyman?
Das war die alles entscheidende Frage. Alles andere, außer dieser nebulösen Angelegenheit, geriet in seinem politischen Leben mehr oder weniger zur Nebensache.
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