„Sandra, ich finde Johns Mörder. Ich verspreche es dir.“
Am nächsten Tag suchte Delano nach und nach Johns härteste Konkurrenten auf. Verlangte nach Auskunft über ihr Verhältnis zu Mr. Freyman und erkundigte sich wie ganz nebenbei nach ihren Alibis für den Mordzeitpunkt, falls sie welche hätten.
Die Vernommenen waren alles andere als erfreut, sich im Kreis der Verdächtigen wiederzufinden.
‚Alles reine Routinefragen‘, versicherte er daher den Herren beflissen und beruhigte sie darüber hinaus mit den Worten: ‚Das ist selbstverständlich keine Vernehmung. Ich sammle lediglich Informationen. Ich muss für einen vollständigen Bericht einfach nur jeden Einzelnen von Ihnen auf meiner Liste abhaken können‘.
Von besonderem Interesse für den Sheriff waren auch Beobachtungen über ungewöhnliche Vorgänge, welche die Befragten in letzter Zeit, vor allem aber die letzten Tage, gemacht haben könnten.
Von den Züchtern konnte er die Adressen von den drei Buchmachern erfahren, die damals aufgrund von Johns gezielten Einsätzen Bankrott gegangen waren. Er überprüfte selber das Alibi des einen, der ortsansässig war. Das der anderen beiden ließ er von den für sie zuständigen Dienststellen an deren Wohnort abklären.
Keiner von den Dreien kam in Frage.
Der im Ort lebende befand sich seit drei Wochen in Ascot, wo er auf Einladung seines Freundes aus England neue Zuchtmethoden studierte. Er wollte erst in zwei Wochen wieder aus Europa zurückkehren.
Der andere war zur entsprechenden Zeit in einer Geschäftsbesprechung in Seattle, was die örtlichen Behörden sowohl durch seinen Geschäftspartner als auch durch die Angestellten des von ihm gebuchten Hotels bestätigen ließen.
Der Dritte hatte das überzeugendste Alibi. Es war noch mehr als wasserdicht: er saß bereits seit über einem Jahr wegen wiederholter Manipulation der Ergebnisse von Pferderennen im Gefängnis von Tucson, Arizona.
Am dritten Tag nach dem abscheulichen Mord an John Freyman kam Gregory Delano erst nach dem Mittagessen in sein Büro. Er schloss die Tür hinter sich, bereitete sich eine große Kanne starken Kaffee zu und stellte sie zusammen mit einer Tasse auf das Beistelltischchen neben seinem Stuhl. Dann ließ er sich in den bequemen Sessel mit dem etwas abgeschabten Büffelleder fallen und streckte die Beine auf dem Schreibtisch aus.
Er ließ die letzten Tage Revue passieren, sortierte die Aussagen, die gemacht wurden, zog dies in Erwähnung und das; wägte eines ab und ein anderes, spann sich ein Netz aus Gedanken, in dem der Mörder sich verfangen sollte.
Er zählte eins und eins zusammen. Um das so offenbar eindeutige Ergebnis gleich wieder auseinanderzunehmen. Immer wieder setzte er die Puzzleteile der Antworten, die er erhalten hatte, anders zusammen.
Mal schien schon alles stimmig zu sein, dann entdeckte er in seiner Gedankenkette enttäuscht einen Widerspruch.
Also alles wieder ganz von vorne.
Stunden saß er so.
Als sein Magen so drängend knurrte, dass ihm zwischendurch immer wieder die Vorstellung von deftigen Braten und schmackhaft gesottenem Gemüse in die Gedanken einfloss, ging er in den Saloon neben der Station hinüber und ließ sich dort schnell ein paar Spiegeleier und Speck in der Pfanne braten.
Ablenkung konnte er jetzt nicht gebrauchen.
Elisa, die Bedienung, wunderte sich, dass der Sheriff heute so kurz angebunden war. Sie kannte ihn etwas umgänglicher, immer auch zu einem Scherz aufgelegt. Heute schaute er nur mürrisch vor sich hin und beachtete sie kaum.
Sie ahnte schließlich nicht, dass der gedankenverlorene Sheriff gerade in einer ganz anderen Welt lebte, die er sich selber im Kopf zusammengebastelt hatte, und in der er verzweifelt nach einem kaltblütigen Mörder suchte.
Hastig schlang Gregory Delano das Mahl hinunter.
Er glaubte fest, dass er der Lösung nahe war. Es gab wiederum noch einige Details, von denen er noch nicht genau wusste, ob und wie sie zusammenpassten.
Nachdem er sich wegen seines trocken gewordenen Mundes noch ein Glas Root Beer gegönnt hatte, ging er zurück ins Büro und nahm exakt die gleiche Stellung ein, die er vor dem Gang in die Kneipe innegehabt hatte.
Vor seinen Augen lief nun immer wieder ab, was sich im Landhaus John Freymans abgespielt haben könnte.
Noch hatte der erdachte Ablauf immer wieder verschiedene Fassungen, wenngleich jetzt schon um ein paar weniger.
Wieder vergingen die Stunden.
Warren Harms stand mit seinem Zuchtbetrieb kurz vor dem Zusammenbruch. Munkelte man. Genau wusste das aber keiner, man redete nur darüber.
Harms betrieb zusammen mit seinem Bruder auch eine Pferdemetzgerei, was übrigens bei seinen Kunden nicht so besonders gut ankam. War jetzt auch nicht wichtig, bedeutsam war nur, dass dort ebenfalls große Messer im Gebrauch waren. Die gleichen, oder sehr ähnliche, wie jenes, das auch in der Mordnacht benutzt wurde.
Seine Geschäfte dürften jetzt zweifellos wieder besser laufen, weil das Charisma und die Reputation Johns nicht mehr den ausschlaggebenden Einfluss auf zukünftigen Auktionen ausüben konnte, so wie das vor Johns Tod häufig der Fall gewesen war. Gerade in letzter Zeit hatte Harms gegen ihn sehr oft den kürzeren gezogen.
Harms ist bestens befreundet mit den Hendersons; schon Harmsens Vater hatte in Hendersonville gelebt. Ein Vorgehen gegen ihn wäre nicht einfach. Die Honoratioren der Stadt würden sich gegen ihn wenden.
Gegen ihn, den Sheriff, gegen den Mann aus dem Osten, der zwar sehr geachtet war, aber eben hier nur zugezogen.
Wenn es aber doch so war, wie Paco es gesagt hatte? Konnte man dem überhaupt glauben? Immerhin gefährdete er mit seiner delikaten Aussage seine Arbeitsstelle.
Der Sheriff starrte an die Decke des Büros.
Eine wichtige Tatsache ging ihm nicht aus dem Kopf. Er glich jedes Für und Wider zum wiederholten Male ab. Und noch einmal, und noch einmal.
Endlich nahm Gregory Delano die Füße vom Tisch, beugte sich etwas vor, setzte den Ellbogen der linken Hand auf die Tischplatte auf und stütze sein Kinn in die halb geöffnete Hand. Mit dem Daumen rieb er die Stoppeln an seinem Unterkiefer. Sein Blick wanderte langsam zum Fenster.
Er wusste jetzt, wie es war - und wer es war.
Er war sich jedenfalls ganz sicher.
Jetzt passte alles zusammen. Die vielen einzelnen Teile ergaben jetzt ein perfektes Bild. Kein schönes Bild, ganz im Gegenteil, ein schauriges. Aber anders, wie es sich darauf darstellte, konnte es gar nicht gewesen sein. Für ihn war die Sachlage jetzt völlig klar.
Er war alles andere als glücklich über seine Erkenntnis.
„Ja, so und nicht anders war es“, sagte er halblaut vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.
„Wer hätte gedacht, dass dieser Mensch zu so etwas überhaupt fähig ist.“
Er ballte die rechte Hand zur Faust, sein Gemurmel wurde zu einem hinausgepressten Ehrenwort: „John, ich werde dir Genugtuung verschaffen.“
Gegen vier Uhr morgens, als die Morgendämmerung den heraufziehenden Tag ankündigte, da erlosch das Licht, das aus dem Büro des Sheriffs nach außen gedrungen war.
Als letztes in der Stadt.
Außer dem Tathergang, den er bald mit stichhaltigen Indizien dem Gericht zur Beurteilung vorzulegen gedachte, war dem Sheriff noch etwas anderes klar geworden:
Der nächste Tag würde einer der unangenehmsten in seinem ganzen Leben werden.
John Freyman wurde geboren am fünfzehnten April des Jahres 1900. Es war ein Sonntag. Menschen mit einem Hang zu Esoterik erachten die Geburt an einem Sonntag als besonderes Privileg. Denn, so glauben sie unbeirrt, ein am Sonntag geborener Mensch wird besonders viel Glück im Leben haben.
Seit Menschengedenken war das so gewesen.
Auch schon bei den alten Griechen. Und die Menschen des Imperium Romanum, auch das ist überliefert, dachten nicht anders. Auch bei denen galt der an einem Sonntag Geborene als Glückskind, als ‚fortunae filius‘.
Читать дальше