Der gerade einfahrende Frühzug aus New York gab seine spezifischen Rauchzeichen ab.
Während der Lokführer damit begann, sein Tempo bei der Einfahrt nach Hendersonville langsam zu drosseln, hielt Paco den Druck aufs Gaspedal unverändert an.
Als sie die ersten Häuser von Hendersonville erreichten, schlug die Uhr am Giebel der City Hall gerade neun. Jetzt erst nahm Paco den Fuß etwas vom Gaspedal, schaltete hastig einen Gang herunter. Aber erst auf den letzten Meter vor dem Haus des Arztes bremste er den Wagen vollständig ab.
Doktor Igor Smirnow bewohnte eines der Häuser in der Main Street, zwei Blocks vom Hauptplatz entfernt. Genauer gesagt, das Eckhaus, vor dem die Derby Street rechts abging und im weiten, halbkreisförmigen Bogen um die neue Post-Station herumführte.
Er war etwas ungehalten, als er das ungestüme Klopfen an seiner Tür hörte. Für sein Empfinden eine unangenehme, viel zu frühe Störung, während er sich noch seinem Frühstück hingab. Und das war ihm heilig.
Er ließ sich jeden Morgen von seiner Haushälterin ein exquisites Gedeck kredenzen. Er verlangte es in einer Weise angerichtet, dass es auch eines Zaren würdig gewesen wäre.
Um diese unchristliche Zeit für Patientenbesuche pflegte er nach seinem mit Kaviar gefüllten Bliný noch in aller Ruhe eine zweite Tasse Schwarztee einzunehmen.
Und auf dem Schild an der Tür stand schließlich für jeden deutlich lesbar, dass seine Sprechstunde erst ab zehn Uhr begänne. Sein Gesicht drückte den Widerwillen über die Belästigung deutlich aus, als er vor die Tür trat.
Mit nur einem einzigen Blick erkannte er aber, dass es nicht um eine übliche Konsultation ging, sondern um einen dringenden Notfall.
In der blutüberströmten Verletzten glaubte er bei näherem Hinsehen überdies Sandra Brown zu erkennen, jetzt die Frau von John Freyman.
Sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr.
Aber keineswegs wegen der Erkenntnis, dass sein Frühstück damit nicht nur unterbrochen, sondern nun definitiv vorbei sei. Das war ihm schon auf den ersten Blick klargeworden.
Nein, die Ursache war seine tiefe Betroffenheit und die große Besorgnis um den offenbar sehr schlechten Zustand der mit Blut verschmierten Patientin.
Dr. Smirnow war Arzt mit Leib und Seele.
„Dawai, dawai, bringt sie herein, legt sie im Nebenzimmer auf die Liege, macht schnell!“, ordnete er in einem reichlich forsch klingenden Ton an.
Dabei drückte seine rau fordernde Stimme nur die empfundene Anteilnahme aus. Man nahm sie nur deshalb als so resolut, fast unfreundlich, wahr, weil der härtere Klang seiner russischen Muttersprache seinem Englisch nach wie vor maßgeblich den Stempel aufdrückte.
Einige wenige Passanten, die um diese Zeit schon auf der Straße unterwegs waren, standen mittlerweile neugierig um den Lieferwagen postiert und wollten sehen, wer hier angekarrt wurde.
In dem jämmerlichen Zustand, in dem sich Sandra Freyman befand, konnte sie jedoch keiner der schaulustigen Gaffer erkennen. Ihr blutverschmiertes blondes Haar hing jetzt in Strähnen über ihr in der Stadt allgemein als ‚engelsgleich‘ bezeichnetem Gesicht und verdeckte es beinahe völlig.
„Kannst du uns nicht helfen, Igor?“, rief der Sheriff, als er sah, dass der Doktor zurück ins Haus gegangen war und sich anschickte, seinen Arztkoffer zu öffnen, um die benötigten Instrumente daraus hervorzuholen.
Der Sheriff und der Arzt kannten sich seit Jahren und sie waren auch bestens befreundet. Gregory hatte Doktor Smirnow immer mit den Worten seines Landsmannes Tolstoi aufgezogen.
Der nämlich hatte in einigen seiner Bücher die von ihm offensichtlich nicht so hoch geschätzte Kunst der Ärzteschaft immer wieder süffisant aufs Korn genommen. ‚Trotz aller Bemühungen der Ärzte wurde Iwan wieder gesund‘, flocht er zum Beispiel in beißendem Spott in den Text eines seiner Romane. In einigen anderen Schriften formulierte er es nicht ganz so bissig, der süffisante Tenor war aber stets der gleiche. Gregory Delano hatte diese Formulierung, wenn sich während ihrer häufigen Unterhaltungen oder einer der sporadischen Konsultationen die Gelegenheit ergab, dann immer umgemünzt in den frotzelnden Satz:
‚Trotz aller ärztlichen Bemühungen des Igor wurde Gregory schnell wieder gesund‘.
Dr. Igor Smirnow hatte ihm darauf regelmäßig mit einem gutmütigen Brummeln und einem mittelkräftigen Knuff an die Schulter geantwortet.
Zu Späßchen dieser Art war ihnen in der jetzigen Situation aber absolut nicht zumute.
„Ach ja, natürlich, warte kurz, ich komm schon“, rief Doktor Smirnow auf die Frage Gregory Delanos zurück, und schob seinen Koffer schnell wieder von sich weg.
Er knöpfte eilig seinen Kittel zu und eilte hinaus zu den Männern am Wagen vor der Tür.
„Jetzt geht doch mal zur Seite!“, fuhr der Sheriff die mehr als zehn Leute an, die sich mittlerweile am Wagen eingefunden hatten und sich den angespannten Akteuren in den Weg drängten. Widerwillig wichen sie zurück und machten dem Arzt und seinen beiden Helfern Platz.
„Wer ist die Frau denn, Sheriff?“, fragte einer der Umstehenden. Gregory Delano beachtete ihn gar nicht weiter, schüttelte nur verständnislos den Kopf.
Gemeinsam hoben die drei Männer Mrs. Freyman vom Wagen und verbrachten sie behutsam in das Behandlungszimmer. Dort legten sie die Verletzte, die jetzt wieder stark aus dem Oberschenkel blutete, auf die Patientenliege.
Carmen Mendez blieb auf der hinteren Kante der Ladepritsche sitzen und betete jetzt unablässig vor sich hin. Verschämt die Hände gefaltet, still - nur ihre Lippen bewegten sich im Takt der Strophen: ein Vaterunser für Sandra Brown, eines für Sandra Freyman, und zwei für den Erhalt ihrer Arbeitsstelle.
Und dann wieder von vorne.
Zu allererst kümmerte sich der Arzt um die blutende Wunde. Jeder weitere Blutverlust könnte Mrs. Freyman dem Tod ein Stück näher bringen.
Fachgerecht und in geübter Routine legte der Doktor Verbandszeug an.
„Sie kann es überleben - vielleicht“, sagte Dr. Smirnow zu Gregory gewendet, nachdem er Sandra an der Halsschlagader den Puls gefühlt, andere relevante Stellen am Körper abgetastet und eine Weile den frisch verbundenen Oberschenkel und den blutverkrusteten Arm taxiert hatte.
„Neben den Schnittwunden, die mir gar nicht gefallen, scheint sie keine anderen Verletzungen zu haben, vor allem keine inneren.
Aber der Blutverlust war erheblich - und wenn sich die Blutung nicht bald stoppen lässt…“
Er sprach nicht weiter, ließ das Ende des Satzes offen.
Der frische Verband hatte sich schon wieder leicht rot gefärbt. Der Doktor bedeutete Paco Mendez, den Behandlungsraum zu verlassen, bevor er Mrs. Freyman das leichte Nachthemd noch weiter nach oben schob, bis hinauf an die Hüfte, um sich der Wunde an ihrem Oberschenkel noch einmal gründlich annehmen zu können.
Indessen beauftragte der Sheriff den Verwalter, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, den Leichenbestatter aufzusuchen und John Freyman so schnell wie nur irgend möglich aus dem Landhaus abholen zu lassen.
Paco drehte sich in der Tür nochmal um und bestätigte kurz seinen Auftrag, bevor er das Behandlungszimmer verließ. Kaum draußen auf der Straße, gab er die Anordnung umgehend und im gleichen Wortlaut an seine Frau weiter, die immer noch auf der Ladefläche des Pickups hockte.
Nachdem er Carmen noch schnell erklärt hatte, wo der Bestatter zu finden sei, steuerte er direkt und ohne Umschweife auf den Saloon zu, der nur zwei Häuser weiter auf der gleichen Straßenseite lag, um sich dort einen Drink zu genehmigen, oder auch zwei.
Er fand, den habe er sich nach all der Aufregung an diesem Morgen redlich verdient.
An der Theke angelangt bestellte er sich gleich einen doppelten Brandy. Als er den in sich hineingeschüttet hatte, fing er auch schon an, sich mit seinen brühwarmen Neuigkeiten beim Barkeeper und den noch wenigen anderen Gästen im Lokal wichtig zu machen. Jedem erzählte er, was er wusste, ob der es wollte oder nicht.
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